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Santiago, Santiago

Santiago, Santiago

Titel: Santiago, Santiago Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Aebli
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und seine ehrwürdige Kirche im dichten Nebel. In gedämpfter Stimmung wandern wir durch die steile Gasse zum Dourdou hinunter. Wir werden heute etwa 25 Kilometer nach Westen wandern, auf einer Anhöhe, die den Lot im Abstand von einer Wegstunde begleitet.
Einstweilen stehen wir aber im Nebel bei der uralten romanischen Brücke, auf der die Pilger den Dourdou seit jeher überschritten haben, um die jenseitige Anhöhe zu gewinnen. Wir nehmen im Geiste von Conques, das wir schon nicht mehr sehen, Abschied, überqueren den Brückenbogen und steigen auf dem schmalen Weg steil durch den Wald auf. Wir treffen auf die Kapelle des heiligen Rochus, die die Pilgerberichte seit dem Mittelalter erwähnen. Sie ist in einem traurigen Zustand und wird dieses Jahrhundert kaum überleben.
Etwas später kommen wir im sich lichtenden Buchen- und Kastanienwald aus dem Nebel heraus in die Sonne. Unser Lebensgefühl hellt sich auf. Der Wald geht nun in eine verwilderte Weide mit blühendem Heidekraut über. Aber da ist auch das taunasse Farnkraut. Es beschert uns, zusammen mit den Brom-beerranken und dem Ginster, die tägliche Morgennässe.
Wir sind jetzt wieder auf der Hochebene und sehen weit in die Runde über ein sonnebeschienenes Nebelmeer. Einzelne Bergrücken und Gipfel ragen daraus hervor. In der Ferne erkennen wir die Höhen des Aubrac und des Cantal. Darüber wölbt sich ein blauer, wolkenloser Himmel. Die Sonne wirft lange Schatten vor uns her, denn es ist immer noch Morgen.
Wir wandern nun auf einem schmalen Sträßchen, das zwischen Weizen- und Gerstenfeldern und Weiden gegen Westen zieht. Nach einiger Zeit zweigt der historische Jakobsweg rechts von unserem Weg ab und strebt einer Furt über den Lot zu. Derartige Flußübergänge sind nicht mehr nach dem Geschmack der heutigen Pilger, auch nicht nach dem unsrigen, denn der Lot scheint hier gestaut zu sein. So wählen wir, etwas abweichend von der »Grande Randonnée 65«, einen eigenen Weg, der in der Höhe durch die Dörfer weiter gegen Westen führt.
Wir kommen gut vorwärts. Das Nebelmeer löst sich im Verlauf des Vormittags auf, und wir erkennen zu unserer Linken die kleine Stadt Decazeville, die von einem adeligen Minister Napoleons zu einem lokalen Industriezentrum entwickelt worden ist. Anlaß dazu gaben die Eisenerze, die hier in einer riesigen Grube im Tagbau abgebaut worden sind. Die Hochöfen scheinen allerdings stillzuliegen, und wir erkennen auch keine Bagger an der Arbeit.
Gegen Mittag sind wir auf einem Bergsporn über dem Lot, und wir sehen auf Livinhac an seinem jenseitigen Ufer hinunter. Es ist nun sehr heiß geworden, und wir flüchten in den Schatten einer kleinen Kirche, die auf der Anhöhe steht. Wir haben in den letzten Wochen erfahren, daß Kirchen wie Häuser und Schulzimmer ihre Atmosphäre haben. Sie spiegeln den Geist ihrer Pfarrer, ihrer Gemeinden und der namenlosen Frauen wider, die sie schmücken und in Ordnung halten. Unser kleines Gotteshaus ist mit Liebe unterhalten, ja, ich empfinde es als wohnlich und zum Lernen einladend, sozusagen eine pädagogische Umwelt. Auf einem Tisch mit Büchern und Broschüren finde ich ein modernes Bilderbuch, das die Geschichte des heiligen Rochus erzählt, dem auch diese Kirche gewidmet ist. Er hat im 14. Jahrhundert gelebt, soll sich der Krankenpflege gewidmet und das Schicksal eines christlichen Dissidenten erlitten haben. Interessant, daß seit dem Ende des 15. Jahrhunderts mehr und mehr Kirchen und Kapellen, die dem heiligen Jakob geweiht waren, auf diesen jungen Heiligen umgestellt wurden. Es scheint zu Ende des 15. Jahrhunderts so etwas wie eine Inflation der Geltung Jakobs gegeben zu haben, die zu seiner Ersetzung geführt hat. Im Volksbewußtsein ist er allerdings noch lange lebendig geblieben, das zeigt die Beliebtheit des Namens »Jakob« in protestantischen und katholischen Ländern bis in die Gegenwart.
Dann steigen wir nach Livinhac ab. Es ist ein freundliches, kleines Provinzstädtchen, wie es sie in dem großen Lande Frankreich zu Hunderten gibt. In seinem einzigen kleinen Hotel sind wir für eine Nacht gut aufgehoben. Am nächsten Tag wollen wir weiter nach Figeac.
     

Erste Verirrung
11. Tag: Von Livinhac nach Figeac
 
Auch in Livinhac herrscht früh um halb sieben wieder dichter Nebel: nicht eigentlich das Wetter, das wir hier erwarten. Wir haben den Verlauf des Wanderweges am Vorabend studiert und sind zum Schlüsse gekommen, daß er sehr wenig zielstrebig auf Figeac zuführt, sondern vor

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