Santiago, Santiago
täglich die Touristen — und sodann der Aufbau der Säulen und Bogen des Kirchenschiffes und der Vierung. Die drei Streifen des Eingangsreliefs stellen ein Bilder-Buch im wörtlichen Sinne des Wortes dar, weit über hundert Figuren, die den christlichen Kosmos, seine Heilsgeschichte und seine Moral anschaulich machen. Jede Szene und jede Gebärde ist wie eine Aussage zu lesen, wobei wir Spätgeborenen hier allerdings schlechte Leser sind, denn wir verstehen nur noch einen Teil der vielen Symbole. Natürlich thront da Christus im Zentrum, und wir erkennen die vier Evangelisten, die Engel, die Heiligen und die Stifter der Kirche. Auch die Schar der Teufel ist uns vertraut, die die Sünder am Jüngsten Tag in die Hölle und den Ungeheuern in den Rachen stoßen und sie beißen, stechen und würgen. Welche Tugenden und Laster aber da belohnt und bestraft werden und wer hier welche Verdienste hat, verstehen wir nicht mehr. Die urtümliche Gestaltungs- und Erlebniskraft der Schöpfer dieses Reliefs erfaßt indessen jeden Betrachter. Nicht zufällig ist es die rechte Seite, diejenige der Hölle, die alle in ihren Bann schlägt: grinsende Fratzen, hämische Gebärden, bleckende Gebisse von Teufeln und Dämonen, weit geöffnete Rachen und glotzende Augen von Ungeheuern, die die Missetäter verschlingen. Einige von diesen erfahren eine Sonderbehandlung: Zungen werden herausgerissen, Hinterköpfe abgebissen, grausige Dinge werden in Mäuler gestoßen. Und doch, wenn man das ganze Bild überblickt, hat es sein inneres Gleichgewicht, es ruht in sich und hat seine Mitte im Gottessohn, der sich dem Betrachter direkt zuwendet.
Das andere sind die Pfeiler und Bogen, die die Gewölbe der Kirche tragen. Ich habe ihre Linien und Kanten lange erkundet, habe bei der Kante einer Säule unten angefangen und bin ihr aufwärts gefolgt: Sie geht in einen Bogen über, der das Mittelschiff vom Nebenschiff trennt. Die nächste Kante läuft höher hinauf und mündet in einen Bogen, der dem Hauptschiff entlang führt. Eine dritte steigt noch einmal höher und überquert mit einem Band das Mittelschiff. Aus den unteren großen Bogen wachsen die darüberliegenden heraus. Auch sie verzweigen sich in der Längs- und in der Querrichtung und werden durch umfassende Bogen wieder zu zweien und zu dreien zusammengefaßt. So differenziert auch der menschliche Geist seine Ideen und Begriffe, um sie sodann wieder unter höheren Gesichtspunkten zu vereinigen.
Diese Strukturen sehen wir heute am fertigen Bau. Aber einmal mußte er ja auch erstellt werden: einmal war hier nur ein abgemessener Bauplatz, in dem die Fundamente dieser Säulen als Stummel aus dem Boden ragten. Im Geiste der Bauleute waren die Säulen und Bogen schon konzipiert: diese Kante sollte in den einen, jene Kante in den anderen Bogen münden, und das Insgesamt der Formen sollte nicht nur in sich ruhen und das Auge erfreuen, es sollte auch die Tonnen eines schweren Steindaches und einer Vierungskuppel tragen und diese nicht auseinandersprengen, sondern sie vielmehr über Jahrhunderte zusammenhalten. Wir bilden uns heute einiges auf die Werke unseres Geistes ein. Aber was waren das für Köpfe, die ohne jede formale Bildung und Theorie, und ganz ohne Berechnungen, derartige Werke erdachten?
Im kleinen Städtchen selbst hat uns die Gasse, welche durch die Unterstadt und aus den ehemaligen Mauern hinaus in den Talgrund hinunterführt, am besten gefallen. Die alte Pflasterung ist noch erhalten, und der Wanderer nimmt die Häuser, die die Gasse säumen, plastisch auf, weil er sie zuerst von oben, gleichsam aus der Vogelperspektive, dann von der Seite und schließlich von unten, gegen den Horizont, wahrnimmt. Und was für Häuser! Ein jedes hat seine Persönlichkeit. Die Mauern, aus dem gleichen irisierenden Stein wie die Kirche erbaut, und die Dächer mit ihren zeitlosen, römischen Rundziegeln haben ihr Eigenleben. Sie sind dem Menschenleben, das sich in und unter ihnen abspielt, gemäß, weil sie mit ihm gewachsen sind und sich an ihm geformt haben.
Das Flüßchen Dourdou unten im Haupttal nimmt den Bach auf, der aus der Waldschlucht von Conques mündet. Eine alte Steinbrücke führt darüber. Sie hat den Pilgern während Jahrhunderten gedient. Morgen werden wir sie überschreiten, wenn wir unsere Wanderung in Richtung auf Figeac und Cahors fortsetzen.
Wandern über dem Nebelmeer
10. Tag: Von Conques nach Livinhac
Wie wir am frühen Morgen vors Hotel treten, liegen das stille Städtchen
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