Santiago, Santiago
auch, wie die einzelnen Wege und Wegvarianten untereinander zusammenhängen. Geographisch kennen wir also unsere Lage sehr gut. Gesellschaftlich ist es anders. Das merken wir, wenn wir in einem Hotel nach einem Zimmer fragen. Die Wirte fragen sich, wer wir sind. »Des marcheurs«, ja, aber was für Marschierer? Friedensmarschierer? Aussteiger? Pilger?
Die Situation des mittelalterlichen Pilgers war eine ganz andere. Geographisch wußte er kaum, wo er ging und stand. Er war hinausgeworfen in die Fremde, in das Elend, »Aus-dem-Land«. Zwar wanderte er, anders als wir, einem ständigen Strom heimkehrender Pilger entgegen, wenigstens in der hohen Zeit der Jakobspilgerei. Abends in der Herberge konnte er sich daher mit seinen heimwandernden Landsleuten über seine nächste Etappe unterhalten, die diese eben gerade zurückgelegt hatten. Aber das waren eher praktische als topographische Hinweise.
Anders jedoch seine gesellschaftliche Stellung. Zwar hatte er seine heimatliche Welt verlassen, war nicht mehr »der Schmied«, »der Säumer« oder »der Wirt« seines Dorfes. Aber als Pilger hatte er in ganz Europa seinen genau bestimmten Platz, den er durch seine Tracht mit Pelerine, Hut und Stab auch deutlich machte. Das verlieh ihm Sicherheit bezüglich seiner Rolle und garantierte ihm eine gewisse Vorzugsbehandlung durch die Bevölkerung.
Die Situation des Pilgers hat seither also die Vorzeichen gewechselt: an die Stelle topographischer Unsicherheit ist Sicherheit und ein genaues Wissen über den jederzeitigen Standort getreten. Aber die wohldefinierte gesellschaftliche Stellung und Rolle ist einer diffusen Identität gewichen, die wir nur darum nicht weiter erleiden, weil sie längst nicht nur unsere Rolle als Pilger, sondern unsere moderne Existenz überhaupt kennzeichnet.
Solche Dinge zu denken, haben wir heute Zeit. Der Weg führt durch eine wenig spektakuläre, freundliche Landschaft.
Geographisch sind wir im Quercy, geologisch in den Causses, einer Landschaft, die dem süddeutschen und schweizerischen Tafeljura gleicht.
Das ist uns an den Torbogen aufgefallen. Sie sind so genau und fein gearbeitet, wie man das nur in Kalkstein tun kann. Auch die Wege sind anders: der Kalkkies ist fein und hell; wenn größere Steine draufliegen, sind sie kantig — man möchte nicht darauf fallen. Die Mauern, die den Weg säumen, bestehen nicht mehr aus den rundlichen Granitbrocken, sondern aus flachen, scharfkantigen Platten.
Mit der Zeit wird die Landschaft einsamer. Unser Sträßchen führt durch magere Weiden, darin stehen Eichen, einzeln und in kleinen Gruppen, wie im Jura die Tannen. Dann verengt sich das Tal, und es geht auf einen schluchtartigen Ausgang zu. Man sieht durch den Wald Kalkfelsen und Kalkschutt. Dieser selbst ist struppiges Maquis. Es gibt keine großen Bäume. Auf einmal brechen die seitlichen Felsen ab, und wir kommen in eine Talebene hinaus. Etwas weiter vorn fließt ein Fluß, der Célé, den wir in Figeac verlassen haben. Jenseits einer Brücke liegt Brengues, unser heutiges Ziel, wenige Häuser, die sich einen Abhang hinaufziehen. An der Straßenkreuzung steht der Gasthof mit Gartenwirtschaft und Handlung, in dem wir übernachten wollen.
Das Nachtessen beschert uns eine neue Erfahrung. Am Nachmittag hatte uns noch eine robuste Kellnerin im Garten ein Bier serviert. Im Speisesaal beginnt das Nachtessen für die kleine, internationale Runde von Gästen indessen mit einer längeren Wartezeit. Schließlich taucht die Wirtin auf und erzählt an jedem Tisch in einfühlsamen Tönen, daß es der Kellnerin/Köchin plötzlich so schlecht geworden sei, daß sie der sofortigen Ruhe bedürfe. Das Nachtessen sei darum etwas einfacher als sonst...
Die Suppe besteht dann in der Tat aus Brotstücken, die mit Fleischbrühe nur spärlich benetzt sind. Zur Vorspeise erhält jeder Gast ein kleines, zylindrisch geformtes Stück Leberpaste, in dem ich das Relief der Büchslein wiedererkenne, die wir im Laden schon als Kandidaten für unsere morgige Zwischenverpflegung betrachtet haben. Der »einfache Fisch« ist stark paniert und hat eine geometrische Form, in die die Fischpaste offenbar gepreßt worden ist, und zum Nachtisch erhalten wir ein Stücklein Fruchtkuchen, dessen Knusprigkeit unter der Hitze der letzten Tage stark gelitten hat. Aber fast alle Gäste sind voller Mitgefühl für die biedere Wirtin. Nur ich scheine mich in durchaus unpilgerlicher Skepsis zu fragen, ob das Mißgeschick für die Wirtin bei unverändertem
Weitere Kostenlose Bücher