Santiago, Santiago
das weite Tal der Garonne zu. Es geht vorerst noch einige Wegstunden talauswärts, dann werden wir mehrere untiefe Täler überschreiten und schließlich an die Garonne und nach Moissac hinunterwandern.
Wir wissen nicht recht, wie weit wir heute kommen werden. Viele Übernachtungsgelegenheiten gibt es auf dem Wege nicht, und ob unsere Kräfte nach der Anstrengung des gestrigen Tages bis Moissac reichen, ist nicht sicher. Darum fangen wir den Tag mit einer Abkürzung an: statt über die Hügel dem Wanderweg zu folgen, wählen wir die Talstraße, die fast gradlinig zu dem Städtchen Lauzerte führt. Die erste halbe Stunde in der Dunkelheit geht gut. Aber dann belebt sich der Verkehr auf der Departementsstraße, und einen Gehsteig gibt es hier natürlich nicht. Die vorbeibrausenden Laster jagen uns einigen Schrecken ein. Dabei habe ich heute Geburtstag. Verena findet, das sei keine gute Art, diesen Tag zu beginnen. Nicht einmal die großen Sonnenblumenfelder, die sich der aufgehenden Sonne zuwenden und ganze Hügel in ein Bad von warmem Gelb tauchen, vermögen uns über unsere ungemütliche Lage hinwegzutrösten.
Da hält plötzlich ein schwerer Brummer, der uns eben überholen wollte, an unserer Seite an, ein junger Bursche beugt sich heraus und schaut uns fragend an. Ich sage: »Lauzerte«, er nickt und lädt uns mit einer Kopfbewegung zum Einsteigen ein. Diesmal stellen wir keine Überlegungen an, ob wir sollten oder nicht, sondern klettern erleichtert in die hohe Führerkabine hinauf.
Ob der junge Fahrer erschrocken ist, als er bemerkt hat, daß wir mehr als doppelt so alt wie er sind? Jedenfalls wagt er nicht, das Autoradio abzustellen und uns nach dem Woher und Wohin zu fragen. Ich finde, er hätte das Recht, dies zu wissen, und erzähle, daß wir aus der Schweiz kommen und nach Santiago wollen. Er sagt nicht viel, hat wohl auch noch kaum von Santiago gehört und weiß mit der Idee des modernen Pilgerns wenig anzufangen. Aber er hat uns etwas Gutes getan, das ist das Entscheidende, und es genügt. Was uns noch eine Stunde Marschzeit und einige bange Momente gekostet hätte, ist in wenigen Minuten geschehen. Unser Helfer hält seinen Laster am Fuße des Hügels von Lauzerte an, wir danken ihm herzlich und verabschieden uns. Er gibt seinem Diesel wieder Gas und ist rasch weg.
Eine sonderbare Erfahrung, so unvermittelt an einem ganz anderen Punkte zu sein. Wir haben uns daran gewöhnt, daß die Landschaft langsam wechselt, daß wir ihre Veränderung intensiv erleben, sie auch durch eine Leistung unseres Körpers verdienen müssen. Die Erlebnisform des Fußwanderers ist eine andere als diejenige des Autofahrers.
Lauzerte ist ein ummauertes Städtchen auf einem Bergsporn zwischen zwei Tälern. Es ist gerade am Erwachen, wie wir auf den großen quadratischen Hauptplatz kommen. Arkaden umgeben ihn, die Häuser und die gotische Kirche sind mit viel Geschmack restauriert. Ein junges Mädchen beginnt, einen Blumenstand aufzubauen; ein Hund, der die Nacht draußen verbracht hat, möchte in sein Haus und sitzt erwartungsvoll vor der Tür. Der Wirt eines Cafés am Platz öffnet sein Lokal und rückt die Eisenstühle und Tische davor zurecht. Uns zuliebe unterbricht er diese Arbeit und bereitet uns den »grand café au lait«.
Wir erfahren von ihm, daß die Welt des Städtchens nicht so heil ist, wie sie aussieht. Viele Häuser sind zu verkaufen. Das Leben auf dem Berg, in mittelalterlichen Mauern, hat seine Probleme. Auch unser Wirt würde sein Restaurant verkaufen, wenn er einen Käufer fände.
Wie wir aus dem Südtor des Städtchens hinauswandern, steht die Sonne schon ein Stück weit über dem Horizont. Vor uns liegt eine bewegte Hügellandschaft, nicht unähnlich dem Emmental. Die Unterstadt, die sich hier am Südhang ausbreitet, ist belebt. Freundliche Frauen in Ärmelschürzen sind am Einkaufen und halten den ersten Schwatz des Tages. Sie zeigen Interesse für uns Wanderer und geben gerne und ausführlich Auskunft über den besten Weg hinunter ins Tal und hinüber auf die andere Seite. Dem versuchen wir zu folgen.
Wir spüren, daß wir im Tal unten nur noch etwa 100 Meter über dem Meeresspiegel sind. Die Wiesen sind saftig, Mais und Sonnenblumen haben kräftiges Kraut, die Getreideäcker sind längst abgeerntet. Dann geht es in einer zerfurchten Landschaft aufwärts und an einsamen Bauernhöfen vorbei. Zwischendurch das vornehme Haus eines Landedelmannes, mit ummauertem Park und großem Taubenhaus. Beim näheren
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