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Santiago, Santiago

Santiago, Santiago

Titel: Santiago, Santiago Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Aebli
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im Schoß. Alle blicken zu Christus auf. Sind sie von seiner Wiederkunft überrascht?
Am meisten hat mich die Mittelsäule des Portals fasziniert. Hier sind zwei Männer mit langen Haaren und Bärten aus einem großen Block herausgehauen. Ihre Haltung ist demütig, und sie drücken eine Schriftrolle an die Brust. Das Überraschende aber sind die geschweiften, nach oben strebenden Linien ihrer Kleider, die den Figuren eine unwirkliche Leichte verleihen. So streben nur noch die Figuren El Grecos dem Himmel zu. Der Jugendstil hat diese metaphysischen Linien wiederentdeckt.
Das zweite Wunder ist die Rettung des Kreuzgangs. Fast wäre er im letzten Jahrhundert abgerissen worden, um der Bahnlinie Platz zu machen. Er ist quadratisch angelegt. In der Mitte steht eine riesige Zeder, die den Blick gegen den mächtigen viereckigen Turm der Kirche hinauflenkt. Die Säulen und die kunstvoll gestalteten Kapitelle der Arkaden verleihen dem Kreuzgang anderseits eine Leichtigkeit, die an die Alhambra von Granada erinnert. Die Steinmetzen scheinen auf dem Jakobsweg hier heraufgekommen zu sein.
Die Figuren der Kapitelle stellen uns vor das alte Problem: Wir können ihre Bedeutung nur zum Teil lesen. Es fehlt uns scheinbar das entsprechende Vokabular. Der moderne Mensch als Analphabet vor der Symbolsprache des Mittelalters? Zum Glück kann man ein Lied auch genießen, wenn man seine Worte nur unvollkommen versteht. Ein solches Lied ist der Kreuzgang von Moissac.
     

Zweite Verirrung und Herrn Hochets Rat
18. Tag: Von Moissac nach Miradoux
 
Der historische Pilgerweg strebte vom Westtor von Moissac geradewegs auf die nahegelegene Stelle zu, wo der Tarn und die Garonne zusammenfließen. Dort überquerten die Pilger den Fluß auf einer Furt oder mit einer Fähre. Zu gerne wäre ich auch einmal über eine solche Furt gewatet, aber die Garonne ist für einen solchen Versuch nicht geeignet, denn sie ist hier schon ein mächtiger und außerdem noch gestauter Strom. Schwimmend haben ja auch die Pilger die Flüsse nicht überquert.
Wir wählen eine andere Lösung, nehmen am frühen Morgen die Bahn und fahren ein Stück talauswärts, Richtung Bordeaux. Bei Valence gibt es nämlich eine Brücke über die Garonne, die direkt zum Städtchen Auvillar hinüberführt. Diesen Ort berührte auch der historische Pilgerweg.
Von der Brücke aus sehen wir zum ersten Mal die Garonne im Morgendunst, den breiten, von Schilf und Auenwäldern gesäumten Strom. Auvillar liegt gegenüber auf einer Felsenkanzel, hoch über dem Fluß. Es ist ein altes Städtchen mit Arkaden und einer großen gotischen Pilgerkirche.
Wir wandern auf dem Jakobsweg aus der Stadt hinaus in ein Gelände mit saftigen Wiesen, Sonnenblumen- und Maisfeldern. Sie werden uns nun tagelang begleiten. Alles geht gut, bis uns mein Selbständigkeitsdrang ein neues Abenteuer beschert. Von Zeit zu Zeit beginnt mich nämlich das brave Wandern von Wegzeichen zu Wegzeichen zu langweilen. Ich finde es eines autonomen Menschen und Kartenlesers unwürdig und beginne den Verlauf des vorgezeichneten Weges zu kritisieren: Warum schon wieder dieser Umweg? Weshalb denn nicht da durch?
Dieses nette kleine Sträßchen führt doch viel direkter vorwärts. Und so weiter.
So auch am heutigen Tag. Unser nettes, kleines Sträßchen endet jedoch in einer Kiesgrube. Von einem weiterführenden Fußweg ist nichts zu sehen. Wir schauen uns nach allen Seiten um. Da kommt eine Bäuerin mit ihren Schafen vom nahegelegenen Bauernhof. Sie rät uns, einen Waldstreifen zu durchqueren; dahinter könnten wir über eine Wiese direkt ins Tal und zur Straße absteigen. Wir danken für den guten Rat und versuchen es. Die Wiese ist mit Brombeerranken und Ginster überwachsen. Wir weichen den stachligen Brombeeren aus und dringen durch den Ginster vor. Der wird immer höher. Zuerst reicht er uns bis zum Gürtel, dann schwimmen wir in schulterhohen Besen, schließlich sind wir in zwei Meter hohen Büschen untergegangen. Sie zerkratzen uns das Gesicht und nehmen uns jede Sicht. Da bleibt nur eines: Rückzug blasen. Die gute Frau, die unsere Unglückswiese offenbar einige Jahre nicht mehr gesehen hat, ist mit ihren Schafen weitergezogen. Wir wählen nun den Waldweg mit den Stacheldrähten, den sie auch erwähnt hatte. Diese erweisen sich als überwindbarer als das Ginsterdickicht. Auf der Talstraße atmen wir auf. Die vermeintliche Abkürzung hat uns etwa dreiviertel Stunden gekostet. Autonomie hat ihren Preis.
Wir kommen nach

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