Santiago, Santiago
ich verwende daher auch nur die Plastikrasierapparate von BIC, die gelben, nur fünf Gramm schweren. Das sei wahr, ganz leicht seien sie, kommt mir der Mann zu Hilfe, und wir senden ihm einen dankbaren Blick zu. Die Gefahr ist abgewehrt, wir atmen auf.
Unser Gespräch kehrt zu den Katharern zurück. Unsere Gastgeberin belebt sich aufs neue und legt eine erstaunliche Sachkenntnis an den Tag. Sie weiß, daß die Katharer an eine ewige Wiederkunft und an die Seelenwanderung geglaubt haben, und sie verbindet diese Vorstellung mit der Idee eines Gottes, der nicht mehr direkt in den Gang der Weltendinge eingreift, aber in seiner Gerechtigkeit die Dinge doch so geordnet hat, daß Lohn und Strafe immanent am Werke sind und uns mit jedem neuen Leben in der Skala der Wesen auf- oder absteigen lassen. Ich habe inzwischen auch Respekt vor dem Vokabular dieser Frau entwickelt, denn es ist weit überdurchschnittlich. Ich frage sie, woher sie ihr Wissen über die Albigenser habe. Sie habe ein Buch von einem Wiener Autoren gelesen, »Die Botschaft des Grals« sei der Titel, da stehe das alles drin, und noch viel mehr.
Ich möchte nun wissen, wie sie auf das Buch gestoßen ist. Sie sei im Piavetal, in der Nähe von Cortina d’Ampezzo, aufgewachsen und fast nicht in die Schule gegangen, habe aber immer gerne gelesen, bekennt sie. Dann habe sie das Schicksal nach Nordfrankreich verschlagen. Dort sei sie verheiratet gewesen, nicht mit diesem Mann, mit einem anderen, der sich nur für ihr Geld interessiert habe. Aber das sei jetzt vorbei, er da sei gut zu ihr, und sie hätten es schön hier oben. Wir sind beeindruckt von den beiden. Ich bin überzeugt, daß die Frau intelligent ist. Wer wäre sie geworden, wenn sie in ihrem Erkenntnisdrang angeleitet worden wäre?
Wir müssen weiter. Das verstehen unsere Gastgeber und lassen uns gehen. Wir nähern uns dem Ende des Bergrückens. Das Sträßlein beginnt zu fallen, und wir sehen zum ersten Mal in die Ebene des Garonnetals hinaus. Sie liegt leider ganz im Dunst. Nicht einmal die Flüsse, die hier zusammenfließen, sind zu erkennen. Also hinunter. Im Tal sind wir auch schon bei den ersten Häusern von Moissac. Es fängt nicht gerade malerisch an: ein Autofriedhof, dann ein richtiger, dann Garagen und kleine Fabrikbetriebe am Straßenrand.
Moissac ist ein kleines Provinzstädtchen, wir sind bald im Zentrum der Altstadt. Es ist Sonntag, und auf dem Hauptplatz geht gerade der Markt zu Ende. Die Kleider- und Schuhhändler packen ihre Stände zusammen. Die Männer sind schon beim Aperitif, blicken von der Theke auf das Treiben auf dem Platz hinaus, und das Karussell dreht seine letzten Runden. Wir finden am gleichen Platz ein Zimmer. Am Nachmittag reicht es zu einem Rundgang.
Moissac:
Die unwirkliche Leichtigkeit des Steins
Die frühe Geschichte von Moissac ist voll von Abenteuern und Katastrophen. Kaum gegründet, wurde das Kloster von den Arabern verwüstet. Dann kamen die Normannen mit ihren Ruderschiffen die Garonne hinauf und plünderten die junge Stadt. Im 10. Jahrhundert wurde sie von den ungarischen Reiterheeren überfallen — wie auch St. Gallen. Im späten Mittelalter und in der Zeit der Glaubenskriege ging es Moissac nicht besser, und schließlich setzte die Französische Revolution den Schlußpunkt unter die unglückliche Geschichte der Stadt und ihres berühmten Klosters. Die Bibliothek wurde verbrannt, die übriggebliebenen Bücher und Dokumente zerstreut, die Figuren der Kirche verstümmelt, der Kirchenschatz eingegossen.
Aber im 11. und 12. Jahrhundert blühten das Kloster und die Stadt, und es scheint wie ein Wunder, daß einige Werke aus dieser Zeit erhalten geblieben sind. Zwar sind es wenige, eigentlich nur zwei: das Tympanon der romanischen Klosterkirche und ihr Kreuzgang. Die Kirche selbst wurde durch eine gotische ersetzt, das Kloster besteht nicht mehr.
Vom Vorplatz steigt man einige Stufen zum Eingangsportal der Kirche hinab. Der Boden hat sich hier, wie in vielen mittelalterlichen Städten, im Verlaufe der Jahrhunderte gehoben. Um so besser sieht man das Bogenfeld über dem Eingang: in der Mitte ein ernster, majestätischer Christus mit weit geöffneten Augen, der sich dem Betrachter zuwendet. Der Reiz der Figurengruppe geht von den vierundzwanzig Ältesten oder Königen aus, von denen die Offenbarung des Johannes spricht. Sie sitzen in drei Reihen übereinander, locker und natürlich, zum Teil mit übereinandergeschlagenen Beinen, einen Becher oder eine Leier
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