Santiago, Santiago
und zieht träge dahin. Man hat ihm offenbar sehr viel Wasser für die Bewässerung entzogen.
Wir folgen ihm einige hundert Meter aufwärts, denn wir wissen: Da oben muß sich eine alte Brücke befinden, die direkt nach Hospital de Órbigo hineinführt. Vorerst verdecken zwar einige Häuser den Fluß, aber dann stehen wir plötzlich vor einer langen steinernen Bogenbrücke. Unsere Seite ist etwas erhöht, und zwei hohe, runde Bogen überspannen den Flußlauf. Es schließen sich zwei große gotische Spitzbogen an, diese schon auf einer sandigen Aue, und dann folgen noch 15 weitere, niedriger werdende Joche, über die die Brücke zu den ersten Häusern von Hospital de Órbigo führt. In alter Zeit muß der Fluß in diesem breiten Streifen gependelt haben. Reizvoll sind auch die mehrmaligen Richtungsänderungen der alten Brücke.
Sie stammt aus dem 13. Jahrhundert und ist sicher nicht auf dem Reißbrett geplant, sondern nach Augenmaß und gemäß den natürlichen Gegebenheiten gebaut worden. Die Fahrbahn ist etwa drei Meter breit und mit Flußsteinen gepflastert. Links und rechts verläuft eine solide Mauer mit rundem Abschluß. Der Wanderer fühlt sich zwischen diesen Mauern sicher aufgehoben, nicht auf der Brücke, sondern in der Brücke.
Der Ort selbst ist entlang der Straße gebaut, die von der Brücke nach Westen führt. Am Hauptplatz stand das Pilgerhospital, das ihm seinen Namen gab. Es ist heute ein unscheinbares, nur noch teilweise benutztes Gebäude und ein ummauerter, verwilderter Garten. Wir freuen uns, in einem kleinen Gasthaus unterzukommen, das gerade an der Brücke steht.
Wir möchten den Pfarrer der Gemeinde besuchen, um ihn um den Stempel in unserem Pilgerausweis zu bitten. Aber die Abendmesse steht unmittelbar bevor, da wollen wir ihn nicht noch vorher behelligen. Wir wohnen vielmehr selbst dem Gottesdienst bei. Der Pfarrer ist ein älterer kräftiger Mann, und so sind auch seine Worte. Er stimmt die Lieder selber mit voller Baßstimme an, und die Gemeinde singt ebenso kräftig und mit offensichtlicher Freude mit. Die Melodien sind einfach und eingängig, sie werden einstimmig, ohne Orgelbegleitung gesungen. Das zweite Lied ist sogar in Moll. Es ist aber nicht das traurige Moll unserer Lieder des 17. Jahrhunderts, sondern das tiefgründige, humane Moll der spanischen Volkslieder. Wenn es doch in unseren Kirchen auch so tönte!
Nachdem wir den Widerstand einer alten Frau überwunden haben, die den Pilgern nicht eben wohlgesinnt ist, dringen wir zum Büro des Pfarrers vor. Er hat einen arbeitsreichen Tag hinter sich. Trotzdem empfängt er uns herzlich und drückt uns bereitwillig seinen Stempel in den Pilgerausweis. Er fragt uns auch gleich, ob wir Protestanten seien — wie sieht er uns dies an? — fügt aber sofort vermittelnd hinzu, daß wir doch an den gleichen Gott glauben. Dem stimmen wir gerne zu und freuen uns über den freundlichen Empfang. Ein wenig ist doch auch der moderne Pilger im Elend, hinausgeworfen in eine Welt, in der er sich unsicher und gefährdet fühlt. Darum tun ihm die kleinen Zeichen des Wohlwollens gut.
Geschenke von einfachen Menschen
50. Tag: Von Hospital de Órbigo nach Astorga
Das Problem ist unverändert: der bezeichnete Weg nach Astorga folgt der Autostraße. Wir trauen uns zu, einen attraktiveren zu finden. Unsere letzte selbstgefundene Route war allerdings nicht sehr gut, darum versuchen wir es heute anders. Statt nach Süden weichen wir nach Norden aus, um im großen Bogen durch die Hügel, die nun schon bis an die Straße heranreichen, nach Astorga zu gelangen.
Wir sind ausgeruht, verlassen das Hotel vor Sonnenaufgang und wandern durch das stille Städtchen hinaus in die Vega. Hier ist die Landschaft gegenüber der Ostseite des Río Órbigo verändert: die Felder und die Rinnsale, die sie berieseln, sind kleiner und unregelmäßiger. Es macht Freude, sie zu betrachten, wir verstehen sie besser als die riesigen Ackerflächen mit ihren Kanälen und Wasserleitungen. Am Rande der Talebene liegt Villares de Órbigo, darauf halten wir zu.
Am Dorfrand gehen die Felder in Gärten über. In Beeten mit Pfefferschoten ist ein alter Mann an der Arbeit. Er hat sie sorgfältig bewässert, und die Früchte sind reif und rot. Wir grüßen und fangen ein kleines Gespräch an. Er will wissen, wo wir herkommen und wo wir hinwollen. »De Suiza«, das erregt sein freudiges Staunen. »Hasta Santiago de Compostela«, das findet seine uneingeschränkte Zustimmung: »Peregrinos
Weitere Kostenlose Bücher