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Santiago, Santiago

Santiago, Santiago

Titel: Santiago, Santiago Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Aebli
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erledigen: einen Schuhmacher finden, der uns die Absätze repariert (was nicht schwer ist, denn es gibt in diesem Lande noch Handwerker), Geld wechseln (was sogar leicht ist, denn das arme Land hat erstaunlich viele Banken), Karten kaufen (was hier ebenso schwierig wie in Burgos ist, jedenfalls was die 50 000er Karten von jenseits der Provinzgrenzen betrifft), Zeitungen lesen und ausschlafen. Die Stadt ist groß genug, um diese Wünsche zu befriedigen, und klein genug, so daß es bequem geschehen kann.
León ist eine vitale Stadt, nicht so edel und unnahbar wie Burgos oder gar Madrid, eher volkstümlich, warm und herzlich. Verena und ich finden: Wenn wir in eine spanische Stadt umsiedeln müßten, wir zögen nach León. Die Stadt besitzt die schönste und größte gotische Kathedrale Spaniens. Unweit davon ist der Kirche von San Isidoro ein romanischer Königspalast vorgebaut, mit großartigen, perfekt erhaltenen Fresken aus dem 11. Jahrhundert. Und außerhalb der mittelalterlichen Stadt, am Fluß Bernesga unten, bei der Brücke, über die der Weg nach Santiago weiterführt, steht ein Renaissancepalast von spanischer Grandezza.
Trotz dieser großartigen Baudenkmäler — und es gibt ihrer noch mehr — herrscht hier das lebendige Treiben der Gegenwart. Man meint zu spüren, daß hinter León die kantabrischen Gebirge liegen, deren Menschen etwas von der Kraft der Bergler in die Stadt gebracht haben. Natürlich ist das Bild nicht nur idyllisch: das belebte Zentrum zwischen dem Fluß und der Altstadt und die Vororte, die sich gegen Südosten dem Pilgerweg entlangziehen, sind staubig und laut. Das gehört zu Spanien.
Wenn man die Altstadt relativ unvorbereitet durchstreift, stößt man zuerst auf die Kathedrale. Sie thront auf dem flachen Hügel, über dem schon die Römer ihr Castrum angelegt haben. Von außen wirkt sie etwas hart und geometrisch, und die vielen Strebepfeiler machen es dem Betrachter nicht leicht, die Konstruktion zu entziffern. Aber sobald man drinnen ist, wandelt sich das Bild. Während die Kathedrale von Burgos überladen wirkt, sind die Linien und die Räume hier rein und klar. Die fein gegliederten Säulen schießen schwerelos in die Höhe und verteilen sich natürlich auf die einzelnen Bögen und Gewölbe. Auch auf dem Boden des Schiffes sind die Verhältnisse klar. Alles hat seinen Platz, die Seitenaltäre, ja sogar der Choreinbau, der in Burgos so einengend wirkt.
Das Wunder aber sind die farbigen Glasfenster, die das Licht in immer neuer Temperatur in den hohen Kirchenraum strömen lassen, einmal warm, einmal kühler, und ihn immer wieder anders und neu ausleuchten und beleben. Natürlich haben die romanischen Kirchen ihre Größe und ihr geheimnisvolles Leben. Warum heute aber fast nur diese Kirchen aufgesucht und dargestellt werden, ist mir unverständlich. Ich bewundere die Baumeister dieser gotischen Kirchen, ihr Gefühl für den Kräftefluß in den Gewölben und Bögen, ihre Fähigkeit, diese richtig abzuleiten, so daß die Säulen und schmalen Mauerbänder die gewaltige Last der Decken über Jahrhunderte zu tragen vermochten, auch den Wagemut, diese Säulen hochzuziehen und die Verbindung von der einen zur anderen zu schlagen. Wenn im fertigen Bau alle diese Teile gegeneinander ausbalanciert sind, wirkt das Ganze leicht und doch stabil. Aber diese Säulen mußten ja vorerst unverbunden aufgezogen werden, bevor sie sich gegenseitig stützen und halten konnten, und der Druck des einen Bogens mußte von Anfang an durch den Gegendruck eines anderen aufgefangen werden, sollte eine Säule bei der ersten einseitigen Belastung nicht sofort zur Seite gedrückt werden und einstürzen. Was für ein wunderbares Erspüren der Kräfte, und was für ein Erfühlen oder Erdenken eines Aufbauprozesses, in dessen ganzem Verlauf die je wirkenden Kräfte im Gleichgewicht bleiben. Später hat man so etwas gerechnet und methodisch entwickelt. Hier ist alles noch Intuition, keine irrationale, sondern eine im höchsten Maße rationale, innerlich geordnete. Bauen ist hier ein intuitiv geordnetes Tun, es ist handelndes Denken oder denkendes Handeln.
Unweit der Kathedrale, in der Nordwestecke des ehemaligen Römerlagers, befindet sich das Chorherrenstift und die Kirche San Isidoro. Hier sollen die Reste des großen spanischen Enzyklopäden Isidor liegen, der um das Jahr 600 im Reiche der Westgoten, in Sevilla, gewirkt und mit seinen Schriften einen guten Teil des antiken Wissens in das Mittelalter hinübergerettet

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