Santiago, Santiago
hat. Der Bau ist dreiteilig: ein mächtiger Turm, der in der Stadtmauer stand und nicht nur der Kirche, sondern auch der Stadtverteidigung diente; daran anschließend der Königspalast aus dem 11. Jahrhundert mit dem berühmten Säulensaal, dann die romanische Kirche.
Im Säulensaal befinden sich zahlreiche Sarkophage leónesischer Könige, aber das ist nicht das Wichtige. Weltberühmt ist die Ausmalung der Kreuzgewölbe dieses niedrigen Saales. Es ist eine Symphonie von warmen Farben und von kraftvollen und doch eleganten Figuren weltlicher und religiöser Art. Da sieht man die zwölf Monate des Jahres mit den Tätigkeiten des Landmanns, realistische Hirtenszenen, aber auch die Verkündigung der Maria, die Geburt Christi, den Kindermord in Bethlehem und natürlich den thronenden Christus, umgeben von den Evangelisten. Der Maler kennt die Szenen, die er darstellt: Geißböcklein, die miteinander kämpfen, der Hirt, der den Tieren Salz reicht, der Bauer, der die Reben schneidet. Er malt mit kräftigem, sicherem Strich, erfüllt die Flächen mit natürlichem Leben und hat offensichtlich seine Freude am Erzählen. Das überträgt sich auf den Beschauer. Man nennt den Saal die romanische Sixtina. Es ist eine den einfachen Menschen ansprechende Sixtina, und sie ist groß in ihrer ungebrochenen Naivität.
Die Welt des Palastes von San Marcos ist anders. Er wurde zu Beginn des 16. Jahrhunderts gebaut. Die Ritter des Ordens von Santiago sollten die bedrohte Sicherheit des Pilgerweges noch einmal herstellen. Vergeblich, das Pilgerwesen geriet tiefer in seine schwere Krise. Daran war nicht nur die Reformation schuld, sondern ebensosehr ein allgemeiner Wandel der Mentalität, auch in der katholischen Welt. Das spürt man, wenn man vor der großartigen Fassade des Renaissancepalastes steht und an seinem Rand das kleine und bescheidene Pilgerhospital betrachtet: der selbstbewußte und diesseitige Geist der Renaissance war dem Ideal des armen und demütigen, seinen Körper kasteienden, aus der Sehnsucht nach einem fernen Ziel lebenden Pilgers nicht günstig gesinnt. Darum hätten wir auch nicht in das Nobelhotel ziehen wollen, das man heute aus dem Ritterordenshaus gemacht hat.
Im kleinen Museum von San Marcos haben wir einen Gegenstand entdeckt, für den allein sich sein Besuch lohnt: ein elfenbeinernes Kruzifix aus dem 12. Jahrhundert. Moderne Menschen und gar Protestanten vermögen mit Kruzifixen nicht ohne weiteres etwas anzufangen. Auch uns ist es häufig so gegangen. Aber dieses kleine Kreuz, es hat nur die Größe eines Buches, ist anders. Es stellt keinen gebrochenen, sondern einen durchaus gefaßten Christus dar. Seine Augen sind weit offen, nicht von Schmerz aufgerissen, sondern die Welt bewußt betrachtend. Kopf und Hände sind übergroß dargestellt, das vergeistigt die Figur. Aber ihre Haltung ist natürlich, eher auf dem Fußbrett stehend als am Kreuz hängend und die Hände daher segnend, nicht ans Holz genagelt. Alle Formen sind stark stilisiert. Insbesondere die Haare, der Bart und der Faltenwurf des Lendenschurzes sind fast ornamental ausgearbeitet, und trotzdem stimmt die Anatomie. Es ist nicht der passiv leidende Gottessohn, sondern ein Christus, der sein Leiden bewußt trägt, als eine Aufgabe, die er für die Welt zu erfüllen hat und bei deren Erfüllung er diese Welt in seinem Bewußtsein trägt. Die Geistigkeit des Bildes ist jenseitig, ihre Natürlichkeit diesseitig. Das müßten wir fertigbringen: geistig zu sein, ohne die Welt zu verleugnen, sie annehmen, um sie zu durchgeistigen.
Neunzehn Joche über den Río Órbigo
49. Tag: Von León nach Hospital de Órbigo
Von León führt die Autostraße praktisch geradlinig nach Hospital de Órbigo, 30 Kilometer über die Meseta. Der Wanderweg verläuft auf der ganzen Strecke entweder auf oder unmittelbar neben ihr, und auf den ersten Kilometern durchquert man ein unerfreuliches Vorstadtgebiet mit Fabriken, Garagen und Autobahnanschlüssen. Wir lösen das Problem folgendermaßen: Wir fahren mit der Bahn etwa sechs Kilometer aus der Stadt hinaus, bis zu einem Dorf, das einige Kilometer von der Autostraße entfernt ist, und wandern dann auf eigene Faust in einem weiten Bogen südlich der Straße bis Hospital de Órbigo.
Es fängt mit einer Komplikation an. Die kleine Station, bei der wir aus dem Zuge klettern, bedient zwei Dörfer, Quintana und Raneros, und wir täuschen uns bezüglich der Identität des Dorfes, durch das wir kommen, meinen, es sei
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