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Santiago, Santiago

Santiago, Santiago

Titel: Santiago, Santiago Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Aebli
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suizos.« Ein wenig verlegen und nicht ganz so uneingeschränkt, wie er es vielleicht erwartet, nehmen wir dieses Lob für unsere Rolle entgegen.
Doch der alte Mann achtet nicht auf die Feinheiten unserer Antworten, er will etwas Gutes an den Pilgern tun, will uns viele von seinen Pfefferschoten schenken. Wir sind gerührt von der Geste, müssen aber an das Gewicht der Früchte und daran denken, daß wir sie nur roh essen können, versuchen abzuwehren, nur wenige zu nehmen. Vergeblich, sein Wille, das Gute zu tun, ist stärker als unsere Abwehr, die er als Bescheidenheit versteht. Wir müssen die Schoten nehmen. Sie belasten zwar unsere Säcke, aber wie gut sie der Seele tun!
Wir nehmen herzlich Abschied und wandern weiter, ins erwachende Dorf hinein. Uns ist nicht klar, wie wir auf einen kleinen Weg gelangen können, der ins Nachbardorf führt, stehen an einer Kreuzung still und studieren die Karte. Ein Mann mittleren Alters, an dem wir vorbeigegangen sind, hat uns offenbar beobachtet. Von ferne winkt er heftig, wir sollen links gehen, gegen Süden. Ich bin nicht sicher, ob er versteht, wo wir hinwollen, fürchte, er möchte uns wieder einmal auf die Hauptstraße zurückschicken, und gehe darum einige Schritte auf ihn zu. Da setzt er sich seinerseits in Trab und läuft zu mir her — er war schon etwa vierzig Meter von uns entfernt. Ich erkläre, daß wir den Fußweg nach Santibánez suchen, und er bestätigt, daß man ein Stück weit nach Süden gehen muß, bis der alte Weg von der Straße abzweigt.
Wieder eines dieser Erlebnisse. Bin ich schon einmal zu einem Fremden hingelaufen, der an einer Straßenkreuzung stand und um sich sah? Ich glaube nicht. Wenn es gutgeht, lassen wir sie an uns herankommen, aber wie häufig geht es gut? Aus welcher Quelle entspringt die Haltung dieses Mannes, sein Interesse am Wohl des Mitmenschen? Ist es unsere Hilfsbedürftigkeit, die seine Reaktion auslöst? Oder ist es schlicht Güte, unbedingte Güte? Wenn es doch gelänge, diese Menschlichkeit durch allen kulturellen und wirtschaftlichen Fortschritt hindurch zu erhalten. Wenn doch nicht nur Wissenschaft und Effizienz von uns Gebildeten zum einfachen Volk hinuntersänken, sondern auch diese Kräfte der Güte und der Selbstlosigkeit zu uns Tüchtigen aufstiegen.
Der Ratschlag des Mannes war gut. Wir finden den alten Weg und wandern in der aufgehenden Sonne zwischen Hecken von Brombeerbüschen und wilden Rosen schräg durch einen sanften Abhang. Wir überblicken die Talebene des Órbigo, die im Dunst des Morgens liegt, ahnen noch, wo die Dächer von Hospital und seine romanische Brücke liegen. Dahinter dehnt sich die östliche Meseta. Die Felder sind am Abhang nicht mehr bewässert, es wachsen hier einige alte Reben, nur noch wenige Felder sind bebaut. Aber wir haben wieder das Gefühl, der Rechtwinkligkeit der Moderne entronnen zu sein, atmen freier und wandern unbeschwerter.
Über einen kleinen Paß kommen wir in ein Seitental des Órbigo, nach Santibánez de Valdeiglesias. Bei den ersten Häusern des Dorfes wechseln wir auf die andere Talseite und steigen wieder schräg am Abhang auf. Die Sonne eines milden Herbsttages liegt nun über der Landschaft, und eine gelöste Zuversicht stimmt unser Wandern.
Der Weg führt durch einen lichten Kastanienhain, und wir gewinnen allmählich die Höhe. Indessen hält er nicht, was er versprach, er wendet sich nach Westen, zurück ins Tal. Das schreckt uns nicht, wir vertrauen darauf, daß wir querfeldein auf jenen anderen Weg stoßen werden, der auf der Karte im großen Bogen nach Astorga führt.
Wir sehen nun über die Hügelkuppe hinaus nach Westen. Da stehen wir plötzlich an einem senkrechten Abbruch, kein Fels, aber ein vom Wasser ausgewaschener Trichter, etwa 80 Meter tief abfallend, mit Erdpyramiden, auf deren Spitzen sich noch einzelne Föhren haben halten können, dazwischen aber die nackte, gelbe Erde und die Rinnen des Wassers, das den Berg hier angefressen hat.
Gut, da hindurch also nicht. Aber der Berg ist ja nur auf der Westseite unpassierbar, wir können dem Rand des Erosionstrichters folgen und werden etwas weiter vorn einen Abstieg finden. So ist es auch. Wir steigen über eine trockene Steppe ab, mit dürrem Gras und Zwergeichen. Vor uns liegt ein einsames Tal mit Weiden, Hecken und Baumgruppen, die gegen den Horizont hin zu einem durchgehenden Waldgürtel verschmelzen. Eine milde Sonne erleuchtet auch diese Einsamkeit. Sie hat nichts Schreckhaftes, lädt vielmehr zum

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