Santiago, Santiago
Großmutter holt nun ihren 11jährigen Enkel. Dann kommt noch ihr Mann dazu, es geht in der kleinen Küche immer lebhafter und herzlicher zu. Wir erzählen, wo wir in der Schweiz leben. Unser Land ist den Spaniern als Arbeitsort wohlbekannt, und zu unserer Beruhigung haben die Gewährsleute dort scheinbar nur gute Erfahrungen gemacht. Es könnte ja auch anders sein.
Ob wir nicht noch ein Stück nehmen wollten? Wir sind von der Gastfreundschaft dieser Menschen, die wir erst seit einer halben Stunde kennen, überwältigt. Er sammle fremde Münzen, erzählt uns der Bub. Leider haben wir uns an der Grenze auch der letzten französischen Münzen entledigt. Aber wir versprechen ihm, einige aus der Schweiz zu schicken, wenn wir wieder zu Hause sind.
Schließlich müssen wir weiter, so gut es uns in der Kühle dieses Hauses und in der Wärme des Kontaktes mit seinen Menschen auch gefällt. Es geht an ein herzliches Abschiednehmen. Wir erhalten gute Wünsche für unsere weitere Reise und bedauern, daß wir unsere Gefühle der Sympathie und Dankbarkeit in der spanischen Sprache nicht besser ausdrücken können. San Justo ist schon fast ein Vorort von Astorga. In einer knappen Stunde sind wir am Fuße der Stadtmauern, dann steigen wir durch eine laute und staubige Straße in die Altstadt auf und finden bei der Kathedrale eine Unterkunft. Der Tag war der schönste und erlebnisreichste unserer bisherigen Reise.
Astorga ist heute ein Städtchen von weniger als 20 000 Einwohnern. Es hat jedoch eine bedeutende Vergangenheit. Seine Stadtmauern stehen auf römischen Fundamenten, und im Mittelalter war es einer der großen Etappenorte am Jakobsweg, der letzte Halt vor dem furchtgebietenden Übergang über die Montes de León. Aber es war nicht nur der Pilgerverkehr, der die Stadt belebte: das Gebirge hinter Astorga ist reich an Eisen, Buntmetallen und Gold, und später kam die Kohle dazu. Diese Bodenschätze wurden über die Paßübergänge hinter Astorga ins Innere Spaniens transportiert. Zwischen den Jahren 1500 und 1800 stand die Zeit in Astorga allerdings still. Seither hat die Stadt wieder einen bescheidenen Aufschwung genommen.
Die Kathedrale ist riesig, und die Astorger vermögen sie offenbar nicht mehr mit Leben zu füllen. Daneben steht ein historisierender Palast mit einem bescheidenen Museum: die Pilger haben offensichtlich nicht viel zurückgelassen, was ausstellenswert wäre. Am besten haben uns die altmodischen Ladengeschäfte der Stadt gefallen, die noch etwas von der Persönlichkeit ihrer Besitzer widerspiegeln und in denen man nicht einkaufen kann, ohne ihnen zu begegnen. Wie unpersönlich sind dagegen unsere Selbstbedienungsläden, wo man einsam durch die Regale wandert, die Einkaufsobjekte in den Plastikkorb steckt und eine Kasse sucht, an der man das Geld für den Einkauf loswerden kann.
Ein Tag und eine Nacht in den Leóneser Bergen
51. Tag: Von Astorga nach Ponferrada
Aus dem »Guía del Peregrino«, unserem Reiseführer, wissen wir, daß uns heute (und vielleicht morgen) die schwierigste Etappe unserer Fußreise bevorsteht: 52 Kilometer, 600 Meter Auf- und 1000 Meter Abstieg, und in der Mitte, wo man es bräuchte, weder Gasthaus noch Lebensmittelladen. In den älteren Beschreibungen ist zwar die Rede davon, daß man die Nacht in einer »escuela abandonada«, einer aufgegebenen Schule, verbringen könne, aber in den jüngeren heißt sie schon »una escuela en ruinas«. Das ist nicht gerade einladend. Wir haben uns daher seit einigen Tagen Gedanken gemacht, wie wir diese 52 Kilometer ohne Gewaltmarsch bewältigen könnten.
Unsere Lösung umfaßt zwei Gedanken: am Anfang und am Schluß je etwa 5 Kilometer per Taxi abzuschneiden und die restlichen 42 Kilometer in einem Zuge, aber mit einer ausgiebigen Ruhepause in der Mitte, zu durchwandern. Das Problem ist nämlich, daß wir uns in der Mitte des Weges auf etwa 1500 Meter Meereshöhe befinden werden; Ende September könnte eine ganze Nacht im Freien ziemlich kühl werden.
Vielleicht auch schon der Abend. Aber wir führen eine wärmedämmende Rettungsfolie, wie man sie im Gebirge braucht, mit uns, und zudem habe ich den Clochards von Paris eine Idee abgeschaut: daß nämlich das Zeitungspapier einen vorzüglichen Deckenersatz abgibt. Verena traut der Weisheit der Clochards weniger, aber sie hat in kalten Alphütten ihrerseits Zeitungen unter die Kleider gesteckt, und so nehmen wir je ein Bündel alter Zeitungen und ich dazu noch eine kleine Heftmaschine mit.
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