Saphirblau
wirst dort niemandem begegnen.«
»Aber vielleicht gibt es dort Ratten . . .«
»Ratten haben mehr Angst vor dir als umgekehrt, glaub mir.« Mr Whitman hatte den Chronografen aus seinem Samttuch geschält. »Beeindruckend, nicht wahr, Mr Marley?«
»Ja, Sir, sehr beeindruckend, Sir.« Mr Marley bestaunte den Apparat ehrfürchtig.
»Schleimer!«, sagte Xemerius. »Die Rothaarigen sind immer Schleimer, findest du nicht auch?«
»Ich hatte ihn mir größer vorgestellt«, sagte ich. »Und ich hätte nicht gedacht, dass eine Zeitmaschine so viel Ähnlichkeit mit einer Kaminuhr hat.«
Xemerius pfiff durch seine Zähne. »Das sind aber ganz schön dicke Klunkerchen - wenn die echt sind, würde ich das Ding auch in einen Safe schließen.« Tatsächlich war der Chronograf mit zugegeben beeindruckend großen Edelsteinen besetzt, die zwischen den bemalten und beschriebenen Flächen der seltsamen Apparatur glitzerten wie die Kronjuwelen.
»Gwendolyn hat sich das Jahr 1948 ausgesucht«, sagte Mr Whitman, während er Klappen öffnete und winzig kleine Zahnrädchen in Bewegung setzte. »Was fand da in London statt, Mr Marley, wissen Sie das?«
»Die Olympischen Sommerspiele, Sir«, sagte Mr Marley.
»Streber«, sagte Xemerius. »Die Rothaarigen sind immer Streber.«
»Sehr gut.« Mr Whitman richtete sich auf. »Gwendolyn wird am 12. August um zwölf Uhr mittags landen und exakt hundertzwanzig Minuten dort verweilen. Bist du bereit, Gwendolyn?«
Ich schluckte. »Ich würde gern noch wissen ... sind Sie sicher, dass ich dort niemandem begegnen werde?« Von Ratten und Spinnen mal abgesehen. »Mr George hat mir seinen Ring mitgegeben, damit mir niemand was tut. . .«
»Das letzte Mal bist du in den Dokumentenraum gesprungen, der zu allen Zeiten ein häufig genutzter Raum war. Dieses Zimmer hier steht aber leer. Wenn du dich ruhig verhältst und den Raum nicht verlässt - er wird ohnehin abgeschlossen sein -, wirst du ganz sicher niemandem begegnen. In den Nachkriegsjahren wurde dieser Teil der Gewölbe nur selten betreten, man war überall in London mit oberirdischen Bauarbeiten beschäftigt.« Mr Whitman seufzte. »Eine spannende Zeit. . .«
»Aber wenn doch zufällig jemand genau in dieser Zeit den Raum betritt und mich dort sieht? Ich sollte wenigstens die Parole für den Tag kennen.«
Mr Whitman hob leicht verärgert seine Augenbrauen. »Niemand wird hereinkommen, Gwendolyn. Noch einmal: Du wirst in einem verschlossenen Raum landen, hundertzwanzig Minuten dort ausharren und wieder zurückspringen, ohne dass irgendjemand im Jahr 1948 etwas davon mitbekommt. Wenn doch, stünde etwas über deinen Besuch in den Annalen verzeichnet. Außerdem haben wir jetzt nicht die Zeit, um nachzusehen, wie die Parole für diesen Tag lautete.«
»Dabei sein ist alles«, sagte Mr Marley schüchtern.
»Wie bitte?«
»Die Parole während der Olympiade lautete: Dabei sein ist alles.« Mr Marley guckte verlegen auf den Boden. »Das hatte ich mir gemerkt, sonst sind sie nämlich immer auf Latein.«
Xemerius verdrehte die Augen und Mr Whitman sah aus, als würde er gern das Gleiche tun. »Aha? Nun ja, Gwendolyn, da hörst du es. Nicht dass du es brauchen würdest, aber wenn du dich damit besser fühlst. . . Kommst du jetzt bitte?«
Ich trat vor den Chronografen und reichte Mr Whitman meine Hand. Xemerius flatterte neben mir zu Boden.
»Und jetzt?«, fragte er aufgeregt.
Jetzt kam der unangenehme Teil. Mr Whitman hatte eine Klappe am Chronografen geöffnet und legte meinen Zeigefinger in die Öffnung.
»Ich glaube, ich halte mich einfach an dir fest«, sagte Xemerius und klammerte sich wie ein Äffchen von hinten um meinen Hals. Ich hätte nichts davon spüren dürfen, aber tatsächlich fühlte es sich an, als legte mir jemand einen nassen Schal um.
Mr Marleys Augen waren vor Spannung weit aufgerissen.
»Danke für die Parole«, sagte ich zu ihm und verzog das Gesicht, als eine spitze Nadel sich tief in meinen Finger bohrte und der Raum sich mit rotem Licht füllte. Ich umklammerte den Griff der Taschenlampe fest, die Farben und Menschen verwirbelten vor meinen Augen, ein Ruck ging durch meinen Körper.
Aus den Inquisitionsprotokollen des Dominikanerpaters Gian Petro Baribi Archive der Universitätsbibliothek Padua (entschlüsselt, übersetzt und bearbeitet von Dr. M. Giordano)
23. Juni 1542. Florenz.
Vom Leiter der Kongregation mit einem Fall betraut, der äußerste Diskretion und Fingerspitzengefühl verlangt und an
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