Saphirtraenen (Gesamtausgabe)
ich ihn an.
„Wie?“
„Niamh, ich bin kein Wald-Ilyea. Frag mich nicht, wie eure Magie funktioniert. Das musst du selbst herausfinden.“
Sein Blick zeigt mir, dass er keinen Widerspruch duldet.
Verwirrt senke ich den Kopf und betrachte das kleine, braune Blatt. Die kümmerlichen Äderchen zeigen, dass schon lange kein Wasser mehr durch es hindurch floss. Erneut löst sich ein Stück und flattert ihm Wind davon, der durch die schnelle Bewegung des Lith entsteht.
Ich schließe die Augen und konzentriere mich auf die leise Melodie, die von dem halbtoten Überbleibsel eines Baumes in meiner Hand ausgeht.
Die zarten verzweifelten Töne treiben mir Tränen in die Augen.
„Du musst versuchen, sein Lied zu verändern.“
„Ich dachte, du weißt nicht, wie das funktioniert?“, fahre ich Edan an. Ich bin wütend, weil er mich aus meiner Trance geholt hat.
„Ich kann dir nur sagen, wie ich es mit dem Feuer und den Steinen mache“, erwidert er barsch und blickt wieder nach vorne.
Seufzend schließe ich erneut die Augen und achte nur auf das Blatt. Vor mir scheinen sich die Töne in verschiedenen Farben zu verfestigen. Hellbraun, dunkelbraun, grau, schwarzgrau ziehen in verschlungen Bahnen langsam an mir vorbei.
Instinktiv hebe ich die Hand um sie zu berühren, doch sie gleiten durch mich hindurch, als wäre ich ein Geist. Ratlos lasse ich sie wieder sinken und spüre plötzlich eine angenehme Wärme auf meiner rechten Hand.
„Verzweifle nicht, ich bin da.“
Als ich Edans Stimme höre, möchte ich meine Hand zunächst zurückziehen, doch seine Wärme gibt mir Kraft und so halte ich still.
Ich genieße das verheißungsvolle Kribbeln auf der Haut und habe nur Augen für die Farben. Während ich sie beobachte sehe ich hin und wieder einen Funken Grün oder Gelb in der tristen Eintönigkeit. In diesen seltenen Momenten kommt mir das Lied selbst lebendiger und fröhlicher vor. Es scheint, als hätte das Blatt tief in seinem inneren noch einen kleinen Lebensfunken, den ich nur hervorholen und stärken muss.
Sorgfältig, damit Edans Hand nicht wegrutscht, drücke ich das Blatt zwischen meinen beiden Handflächen zusammen. Sofort wird das Lied schneller, empörter und auch die Farben trüben sich. Ich nehme die Hand wieder weg und kneife fest die Augen zusammen. Um das Blatt wieder vollständig zu beleben, muss ich das Lied und die Farben verändern. Da ich mir nicht sicher bin, welchen der beiden Bestandteile ich fassen kann, fange ich zögerlich mit der Musik an.
Ich lasse sie auf mich einströmen und blende die Farben aus. In meinem Kopf verändere ich die Melodie, lasse sie fröhlicher, freier klingen. Lebendig.
Vorsichtig öffne ich die Augen einen Spalt und werfe einen Blick auf das Blatt. Braun und tot, sein Lied hat sich nicht verändert. Seufzend schließe ich die Augen wieder und achte dieses Mal allein auf die Farben und stelle mir vor, wie das Grün zurückkehrt. Grün, gelb, rot. Ich weiß nicht, warum ich mir so sicher bin, dass das Blatt gerade diese Farben benötigt, aber ich spüre es.
Während ich die farbigen Bahnen imaginär mit einem großen Pinsel anstreiche, höre ich, wie sich die Melodie verändert. Sie ähnelt jetzt sehr dem Lied, welches ich vorhin im Sinn hatte. Als ich die Augen öffne ist das Blatt grün und lebendig.
Müde und erschöpft erhebt sich Cedric von seiner Schlafstätte und dehnt ausgiebig seine Glieder. Über Nacht hat er den Entschluss gefasst, dass er Arg’e genauer erkunden muss. Obwohl er die Stadt schon mehrmals besucht hat, kennt er nur einen Bruchteil der verschlungenen Wege und Gassen. Mit einem Ziel im Blick wirkt der Tag auf ihn gleich fröhlicher.
Er schnappt sich sein Bündel und bindet es wieder an seinen Gürtel. Seine lange braune Stoffhose ist von der unbequemen Nacht zerknittert und stinkt nach Heu. Auch das weiße Hemd, aus dessen V-förmigen Ausschnitt einige Brusthaare hervorlugen, sieht aus, als trüge er es schon seit Tagen. Grummelnd streicht er es glatt, wirft sich seinen schwarzen Umhang wieder um und dreht den Schlüssel im Schloss, bis er das leise Klick vernimmt, das ihm zeigt, dass die Türe offen ist. Bevor er sie aufdrückt zieht er sich seine Kapuze wieder tief ins Gesicht. Sollten die Bewohner herausfinden, dass er ein Ilyea ist, würden sie ihn eiskalt ermorden. Er kann den Hass der Bewohner nicht nachvollziehen. Eine Abneigung könnte er noch akzeptieren, aber diese blinde Feindschaft, deren Wurzel nie begründet werden
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