Sara Linton 01 - Tote Augen
aus sehen konnte, keine baufälligen Schuppen oder alte Scheunen. Keine Bretterverschläge, die alte Schnapsbrennereien verbargen. Er fuhr weiter und benutzte die hellen Lichter am Unfallort zur Orientierung, sodass er, als er anhielt, sich genau parallel zum Schauplatz befand. Will zog die Handbremse und gestattete sich ein Grinsen. Die Unfallstelle war ungefähr zweihundert Meter entfernt, die Lichter und die Betriebsamkeit ließen sie aussehen wie einen Sportplatz mitten im Wald.
Will holte die kleine Taschenlampe aus dem Handschuhfach und stieg aus. Die Luft änderte sich schnell, die Temperatur sank. An diesem Morgen hatte der Wetterbericht wechselnde Bewölkung angekündigt, aber Will glaubte eher, dass ihnen ein Wolkenbruch bevorstand.
Er bewegte sich zu Fuß durch den Wald und suchte den Boden sorgfältig nach allem ab, was nicht hierhergehörte. Anna hätte hier durchgekommen sein können oder aber von der anderen Seite der Straße. Worum es ging, war jedoch, dass man den Tatort nicht nur auf die Straße eingrenzen konnte. Die Polizei sollte im Wald sein und in einem Radius von mindestens einer Meile suchen. Es wäre keine einfache Aufgabe. Der Wald war dicht, tief hängende Äste und Gestrüpp erschwerten das Vorwärtskommen, umgestürzte Bäume und Bodensenken machten das nächtliche Terrain noch gefährlicher. Will versuchte, sich zu orientieren, überlegte, welche Richtung ihn zur I-20 führen würde, gab es aber auf, als der Kompass in seinem Hirn sich nur noch wild drehte.
Das Gelände fiel ein wenig ab, und obwohl der Schauplatz noch weit weg war, hörte Will die typischen Geräusche einer Tatortuntersuchung – das elektrische Brummen der Generatoren, das Sirren der Flutlicht-Scheinwerfer, das Knallen von Blitzlichtern, das Murmeln von Polizisten und Spurensicherungstechnikern, das hin und wieder von überraschtem Gelächter durchbrochen wurde.
Über ihm teilten sich die Wolken und ließen einen Strahl Mondlicht hindurch, der den Waldboden in Schatten tauchte. Aus dem Augenwinkel heraus sah er eine Stelle mit totem Laub, die irgendwie manipuliert aussah. Er kauerte sich hin, doch der schwache Strahl der Lampe half ihm nicht viel. Die Blätter waren dunkler, aber er konnte nicht feststellen, ob es Blut war oder nur Feuchtigkeit. Es war jedoch eindeutig, dass hier etwas gelegen hatte. Die Frage war nur, war dieses Etwas ein Tier gewesen oder eine Frau?
Er versuchte erneut festzustellen, wo er sich befand. Etwa in der Mitte zwischen Faiths Auto und dem verbeulten Buick. Die Wolken schoben sich zusammen, und er stand wieder in der Dunkelheit. Die Taschenlampe in seiner Hand gab genau in diesem Augenblick den Geist auf. Will schlug das Plastik gegen seine Handfläche, um noch ein wenig Saft aus den Batterien herauszuholen.
Plötzlich erhellte der gleißende Strahl eines Maglite alles in einem Radius von eineinhalb Metern.
» Sie müssen Will Trent sein«, sagte ein Mann. Will hob die Hand vor die Augen, damit der Strahl ihn nicht blendete. Nur langsam richtete der Mann die Lampe auf Wills Brust. Im entfernten Schein der Tatortscheinwerfer wirkte er wie die lebendige Verkörperung eines Macy’s-Day-Paradeballons – oben wulstig, unten spitz zulaufend. Der winzige Stecknadelkopf des Manns schwebte auf seinen Schultern, das Fleisch seines dicken Halses quoll ihm über den Hemdkragen.
Trotz seines Gewichts bewegte der Mann sich sehr leichtfüßig. Will hatte nicht gehört, dass er durch den Wald schlich. » Detective Fierro?«, riet Will.
Der Mann hielt sich seine Lampe ans eigene Gesicht, damit Will es sehen konnte. » Nennen Sie mich Arschloch, denn so werden Sie den ganzen, einsamen Weg zurück nach Atlanta über an mich denken.«
Will kauerte noch immer auf dem Boden. Er schaute zum Tatort. » Warum gestatten Sie mir nicht zuerst einen kleinen Blick?«
Der Strahl des Maglite leuchtete wieder in Wills Augen. Fierro sagte: » Hartnäckiger, kleiner Pinscher, was?«
» Sie glauben, sie wurde hier ausgesetzt, aber das wurde sie nicht.«
» Können Sie Gedanken lesen?«
» Sie haben eine Fahndung nach allen verdächtigen Fahrzeugen in der Gegend ausgegeben, und Ihre Spurensicherung untersucht den Buick mit einer Lupe.«
» Die Fahrzeugfahndung ist ein Code 10-38, was Sie wissen würden, wenn Sie ein richtiger Polizist wären, und das nächstliegende Haus hier ist das eines alten Knackers im Rollstuhl ungefähr zwei Meilen entfernt.« Fierro sagte das mit einer Geringschätzung, die Will mehr
Weitere Kostenlose Bücher