Sara Linton 01 - Tote Augen
Mineralien in einem Stein.
Ein Führerschein aus Florida.
Die Kennkarte lag etwa einen halben Meter vom Baumstamm entfernt. Daneben lag ein kleines Taschenmesser, die dünne Klinge war so blutverkrustet, dass sie im dunklen Laub kaum zu erkennen war. Dicht am Stamm dünnten die Äste sich aus. Will kniete sich hin und hob die Blätter eines nach dem anderen von dem Führerschein weg. Das dicke Plastik war in der Mitte geknickt. Die Farben und der markante Umriss des Staates Florida in einer Ecke sagten ihm, wo der Führerschein ausgestellt worden war. Im Hintergrund war ein Hologramm, um Fälschungen zu verhindern. Offensichtlich war das im Licht aufgeblitzt.
Er bückte sich tief und reckte den Hals, um sich die Karte genauer anzuschauen, denn er wollte den Fundort nicht zerstören. Einer der deutlichsten Fingerabdrücke, die Will je gesehen hatte, prangte mitten auf dem Führerschein. Mit Blut gezeichnet, sprangen ihm die Wirbel förmlich von dem glatten Plastik entgegen.
» Hier liegen ein Taschenmesser und ein Führerschein«, rief er Amanda zu, die Stimme erhoben, damit sie ihn auch verstand. » Auf dem Führerschein ist ein blutiger Fingerabdruck.«
» Können Sie den Namen lesen?« Sie hatte die Hände in die Taille gestemmt und klang wütend.
Will spürte, wie ihm die Kehle eng wurde. Er konzentrierte sich auf die winzige Schrift, glaubte, ein J oder vielleicht ein I zu erkennen, bevor alles vor seinen Augen verschwamm.
Ihre Wut vergrößerte sich. » Bringen Sie das verdammte Ding einfach her.«
Inzwischen war sie umringt von Polizisten, die alle einen ziemlich verwirrten Eindruck machten. Sogar in sieben Metern Entfernung konnte Will sie über Vorgehensweisen murmeln hören. Die Unberührtheit des Fundorts war oberstes Gebot. Verteidiger stürzten sich mit Begeisterung auf jede Unregelmäßigkeit. Es musste fotografiert und gemessen, Skizzen mussten angefertigt werden. Die Beweissicherungskette durfte nicht durchbrochen werden, denn sonst war das Indiz vor Gericht nicht verwertbar.
» Will?«
Im Nacken spürte er einen Regentropfen. Er war warm. Nun kamen weitere Polizisten dazu, um sich anzusehen, was er gefunden hatte. Sie fragten sich sicher, warum Will den Namen auf dem Führerschein nicht laut ausrief, warum er nicht sofort jemanden losschickte, um eine Computerüberprüfung zu machen. Würde es nun so enden? Würde Will seine dichte Deckung verlassen und vor einer Gruppe Fremder verkünden müssen, dass er bestenfalls wie ein Zweitklässler lesen konnte? Wenn das herauskam, konnte er genauso gut nach Hause gehen und den Kopf in den Herd stecken, denn dann gäbe es in der ganzen Stadt keinen Polizisten mehr, der mit ihm arbeiten würde.
Amanda kam auf ihn zu, ihr Rock blieb an einer dornigen Ranke hängen, und sie fluchte heftig.
Will spürte noch einen Regentropfen im Nacken und wischte ihn mit der Hand weg. Dann schaute er auf seinen Handschuh. Er hatte verschmiertes Blut an den Fingern. Er dachte, dass er sich den Nacken vielleicht an einem der Äste aufgerissen hatte, aber dann spürte er dort noch einen Tropfen. Warm, nass, zäh. Er legte die Hand auf die Stelle. Wieder Blut.
Will schaute nach oben, in die dunklen Augen einer Frau mit dunkelbraunen Haaren. Sie hing mit dem Kopf nach unten etwa fünf Meter über ihm. Ihr Fußknöchel hatte sich im Astgewirr verfangen, und das hatte ihren Sturz offensichtlich gebremst. Sie war schräg gefallen, mit dem Kopf zuerst, und hatte sich dabei anscheinend das Genick gebrochen. Ein Arm hing senkrecht nach unten, als würde sie die Hand nach Will ausstrecken. Ein entzündeter, roter Strich umgab das Handgelenk, die Haut war durchgescheuert. Ein Seilstück war fest um das andere Gelenk geknotet. Ihr Mund stand offen. Ein Schneidezahn war abgebrochen, ein ganzes Drittel fehlte.
Noch ein Blutstropfen löste sich von ihren Fingerspitzen und traf ihn knapp unter dem Auge an der Wange. Will zog einen Handschuh aus und berührte das Blut. Es war noch warm.
Sie war innerhalb der letzten Stunde gestorben.
ZWEITER TAG
5 . Kapitel
P auline McGhee lenkte ihren Lexus direkt auf den Behindertenparkplatz vor dem City Foods Supermarket. Es war fünf Uhr morgens. Alle Behinderten schliefen wahrscheinlich noch. Und wichtiger noch, es war für sie viel zu früh, um weiter zu gehen, als sie unbedingt musste.
» Komm, Schlafmütze«, sagte sie zu ihrem Sohn und drückte ihm sanft die Schulter. Felix rührte sich, doch er wollte nicht aufwachen. Sie streichelte
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