Sara Linton 01 - Tote Augen
Kassiererin: » Haben Sie meinen Sohn gesehen?« Die Frau schaute verwirrt, und Pauline wiederholte knapp: » Meinen Sohn. Er war eben noch bei mir. Er hat dunkle Haare, ist ungefähr so groß und sechs Jahre alt?« Dann gab sie es auf und murmelte nur: » O Mann.« Sie lief zur Bäckerei zurück und dort in den Gängen auf und ab.
» Felix?«, rief sie, und ihr Herz klopfte so laut, dass sie ihre eigene Stimme nicht hören konnte. Jeden einzelnen Gang suchte sie ab, zuerst lief sie, dann rannte sie wie eine Verrückte durch den Laden. Schließlich landete sie kurz vor dem Durchdrehen wieder bei der Bäckerei. Was hatte sie ihm heute angezogen? Seine roten Turnschuhe. Er wollte immer seine roten Turnschuhe tragen, weil sie die Elmo-Figur unten auf der Sohle hatten. Hatte er das weiße T-Shirt an oder das blaue? Was war mit der Hose? Hatte sie heute Morgen seine Cargo-Pants gebügelt oder ihm die Jeans angezogen? Warum konnte sie sich daran nicht erinnern?
» Ich habe draußen ein Kind gesehen«, sagte jemand, und Pauline stürzte wieder auf die Tür zu.
Sie sah Felix hinten um den SUV zur Beifahrerseite herumgehen. Er trug sein weißes T-Shirt, die Cargo-Pants und seine roten Elmo-Turnschuhe. Seine Haare waren noch immer feucht, da sie ihm heute Morgen eine widerspenstige Strähne geglättet hatte.
Pauline wurde langsamer und klopfte sich mit der Hand auf die Brust, als könnte sie so ihr Herz beruhigen. Sie würde ihn nicht anschreien, weil er es nicht verstehen und nur Angst bekommen würde. Sie würde ihn hochheben und jeden Zentimeter seines Körpers küssen, bis er sich wand, und dann würde sie ihm sagen, dass sie ihm, wenn er je wieder von ihrer Seite wich, seinen kostbaren, kleinen Hals umdrehen würde.
Sie wischte sich die Tränen weg, als sie um den Fond ihres Autos herumging. Felix saß im Lexus, die Tür war offen, seine Beine baumelten heraus. Er war nicht allein.
» Oh, vielen Dank«, sagte sie eilig zu dem Fremden. Sie streckte die Arme nach Felix aus und sagte: » Ich habe ihn im Laden verloren und …«
Dann explodierte ihr Kopf. Wie eine Lumpenpuppe sackte sie auf dem Asphalt zusammen. Das Letzte, was sie sah, als sie nach oben schaute, war Elmo, der sie von Felix’ Schuhsohle anlachte.
6 . Kapitel
S ara schreckte aus dem Schlaf auf. Sie brauchte einige Augenblicke, bis sie erkannte, dass sie auf der Intensivstation war und in einem Sessel neben Annas Bett saß. Der Raum hatte keine Fenster. Der Plastikvorhang, der als Tür fungierte, sperrte das Licht vom Gang aus. Sara beugte sich vor, schaute im Schein der Monitore auf ihre Uhr und sah, dass es acht Uhr morgens war. Sie hatte gestern eine Doppelschicht gearbeitet, sodass sie den heutigen Tag freihatte und einige wichtige Dinge nachholen konnte: Der Kühlschrank war leer, Rechnungen mussten bezahlt werden, und die Schmutzwäsche türmte sich so hoch auf dem Boden ihres Wandschranks, dass sie die Tür nicht mehr schließen konnte.
Aber jetzt war sie noch immer hier.
Sara setzte sich auf und zuckte zusammen, als ihre Wirbelsäule eine Position einnahm, die nicht einem C entsprach. Sie drückte die Finger auf Annas Handgelenk, obwohl das rhythmische Schlagen ihres Herzens, zusammen mit jedem Ein- und Ausatmen, von den Maschinen gemeldet wurde. Sara hatte keine Ahnung, ob Anna die Berührung spürte oder überhaupt wusste, dass Sara da war, aber sie fühlte sich besser, wenn sie diesen Hautkontakt hatte.
Vielleicht war es am besten, dass Anna nicht wach war. Ihr Körper kämpfte gegen eine Infektion, die die Anzahl ihrer weißen Blutkörperchen in bedrohliche Höhen hatte schnellen lassen. Ihr Arm ruhte in einer offenen Schiene, die rechte Brust war entfernt. Ihr Bein steckte in einem Streckverband, Metallnägel hielten zusammen, was das Auto zertrümmert hatte. Ein Gipsverband fixierte ihre Hüften, damit die Knochen in anatomisch korrekter Position zusammenwachsen konnten. Die Schmerzen wären sicher unerträglich, doch wenn man bedachte, welche Qualen diese arme Frau hatte durchmachen müssen, wären sie vielleicht gar nicht mehr so wichtig.
Was Sara wunderte, war die Tatsache, dass Anna auch in ihrem gegenwärtigen Zustand noch immer eine attraktive Frau war – vermutlich eine der Qualitäten, die überhaupt die Aufmerksamkeit des Entführers auf sie gelenkt hatten. Sie hatte nicht die glatte Schönheit einer Schauspielerin, aber ihre Gesichtszüge hatten etwas Beeindruckendes, das ihr bestimmt jede Menge Aufmerksamkeit gesichert
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