Sara Linton 01 - Tote Augen
hatte. Wahrscheinlich hatte Sara zu viele sensationelle Fälle im Fernsehen gesehen, aber sie fand es komisch, dass jemand so Bemerkenswertes verschwand, ohne dass irgendeinem anderen es auffiel. Ob es Laci Peterson oder Natalee Holloway war, wenn eine schöne Frau verschwand, schien die Welt dem mehr Aufmerksamkeit zu schenken.
Sara wusste nicht, warum sie über so etwas nachdachte. Herauszufinden, was passiert war, war Faith Mitchells Aufgabe. Sara hatte mit dem Fall nichts zu tun, und eigentlich hatte sie keinen Grund gehabt, über Nacht hierzubleiben. Anna war in guten Händen. Die Schwestern und Ärzte hielten sich nur ein paar Türen weiter auf. Vor der Tür standen zwei Polizisten Wache. Sara hätte nach Hause fahren und ins Bett gehen, dem sanften Regen lauschen und auf den Schlaf warten sollen. Das Problem war, der Schlaf kam selten friedlich oder – noch schlimmer – wenn er kam, dann war er manchmal zu tief, und Sara fand sich gefangen in einem Traum, lebte wieder in einer früheren Zeit, als Jeffrey noch am Leben und ihr Leben genau so war, wie sie es sich erträumt hatte.
Dreieinhalb Jahre waren vergangen, seit ihr Mann getötet worden war, und Sara konnte sich an keinen Augenblick erinnern, in dem sie nicht an ihn, an irgendein Merkmal von ihm gedacht hatte. In den Tagen nach seinem Tod hatte Sara die schreckliche Angst gehabt, sie könnte irgendetwas Wichtiges über Jeffrey vergessen. Sie hatte endlose Listen geschrieben mit allem, was sie an ihm geliebt hatte – wie er roch, wenn er aus der Dusche kam. Dass er gern hinter ihr saß und ihr die Haare kämmte. Wie er schmeckte, wenn sie ihn küsste. Dass er immer ein Taschentuch in seiner Gesäßtasche hatte. Er benutzte Haferkleie-Lotion, um seine Hände weich zu halten. Er war ein guter Tänzer. Er war ein guter Polizist. Er kümmerte sich um seine Mutter. Er liebte Sara.
Er hatte Sara geliebt.
Die Listen wurden ermüdend, und manchmal verwandelten sie sich in endlose Aufzählungen: Lieder, die sie nicht mehr hören konnte, Filme, die sie nicht mehr anschauen konnte, Orte, die sie nicht mehr besuchen konnte. Es gab unzählige Seiten mit Büchern, die sie gelesen, und Urlauben, die sie gemacht hatten, und langen Wochenenden, die sie im Bett verbracht hatten. Fünfzehn Jahre eines Lebens, von dem sie wusste, dass sie es nie zurückbekommen würde.
Sara hatte keine Ahnung, was mit den Listen passiert war. Vielleicht hatte ihre Mutter sie in eine Schachtel gesteckt und in den Lagerraum ihres Vaters gebracht, oder vielleicht hatte Sara sie überhaupt nie wirklich geschrieben. Vielleicht hatte Sara in diesen Tagen nach Jeffreys Tod, als sie so verzweifelt gewesen war, dass sie freiwillig Beruhigungsmittel genommen hatte, die Listen einfach erträumt, als sie stundenlang in der dunklen Küche saß, um für die Nachwelt all die wunderbaren Dinge an ihrem geliebten Ehemann aufzuzeichnen.
Xanax, Valium, Ambien, Zoloft. Sie hatte sich beinahe vergiftet bei dem Versuch, über den Tag zu kommen. Manchmal lag sie halb bewusstlos im Bett und beschwor Jeffreys Hände, seinen Mund auf ihrem Körper. Sie träumte dann vom letzten Mal, als sie zusammen waren, wie er ihr in die Augen geschaut hatte, so selbstbewusst, während er sie langsam zum Höhepunkt brachte. Wenn Sara dann aufwachte, merkte sie, dass sie sich wand, und sie kämpfte gegen den Drang an, sich in der Hoffnung auf wenige weitere Augenblicke dieser anderen Zeit zu verlieren.
Stunden vergeudete sie mit Schwelgen in Erinnerungen an Sex mit ihm, rief sich jedes Gefühl, jeden Zentimeter seines Körpers, jedes drastische Detail ins Gedächtnis. Wochenlang konnte sie sich nur an ihr erstes Mal erinnern, als sie sich liebten – nicht an das erste Mal, als sie Sex hatten, was einfach nur ein hektischer, lüsterner Akt der Leidenschaft gewesen war und Sara dazu gebracht hatte, am nächsten Morgen voller Scham aus ihrem eigenen Haus zu schleichen –, das erste Mal, als sie einander wirklich gehalten hatten, den Körper des anderen gestreichelt und berührt und liebkost hatten, so wie Liebende es tun.
Er war sanft. Er war zärtlich. Er hörte ihr immer zu. Er öffnete ihr die Tür. Er vertraute ihrem Urteil. Er gestaltete sein Leben um sie herum. Er war immer da, wenn sie ihn brauchte.
Früher war er einfach da gewesen.
Nach ein paar Monaten erinnerte sie sich an törichte Dinge: An einen Streit, den sie einmal gehabt hatten darüber, wie das Toilettenpapier auf den Halter gesteckt werden sollte. An
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