Sara Linton 01 - Tote Augen
Kommilitonen an der Emory gemailt worden, der keine Ahnung hatte, was mit Sara passiert war. Er hatte es als Witz geschickt, als wollte er sagen: » Willst du in dieses Höllenloch zurück?«, aber Sara hatte schon am nächsten Tag in der Krankenhausverwaltung angerufen. Sie hatte in der Notaufnahme des Grady ihre Assistenzzeit absolviert. Sie kannte die riesige, ächzende Bestie, die das staatliche Gesundheitssystem darstellte. Sie wusste, dass die Arbeit in einer Notaufnahme einem das Leben, ja, die Seele nehmen konnte. Einen Monat später hatte sie ihr Haus vermietet, ihre Kinderarztpraxis verkauft, die meisten Möbel verschenkt und war nach Atlanta gezogen.
Und hier war sie nun. Zwei Jahre waren vergangen, und Sara trat noch immer auf der Stelle. Sie hatte außerhalb der Arbeit nicht viele Freunde, aber sie war noch nie ein sehr geselliger Mensch gewesen. Ihr Leben hatte sich stets um ihre Familie gedreht. Ihre Schwester Tessa war immer ihre beste Freundin gewesen, ihre Mutter ihre engste Vertraute. Jeffrey war der Polizeichef des Grant County. Sara war der Coroner. Sie hatten sehr oft zusammengearbeitet, und sie fragte sich jetzt, ob ihre Beziehung so eng gewesen wäre, wenn sie beruflich getrennte Wege gegangen wären und sich nur zum Abendessen gesehen hätten.
Liebe nimmt wie Wasser immer den Weg des geringsten Widerstands.
Sara war in einer Kleinstadt aufgewachsen. Als sie das letzte Mal ernsthaft geflirtet hatte, durften Mädchen Jungs noch nicht anrufen, und Jungs mussten den Vater des Mädchens um Erlaubnis fragen, ob sie mit ihrer Tochter ausgehen durften. Inzwischen wirkte das fast lächerlich, aber Sara merkte, dass sie sich danach sehnte. Sie verstand die Nuancen erwachsener Beziehungsanbahnung nicht, aber sie hatte sich gezwungen, es zu versuchen, um herauszufinden, ob auch dieser Teil von ihr mit Jeffrey gestorben war.
Seit sie nach Atlanta gezogen war, hatte es zwei Männer gegeben, beide vorgestellt durch Schwestern im Krankenhaus und beide erschöpfend gewöhnlich. Der erste Mann war attraktiv und intelligent und erfolgreich gewesen, aber hinter seinem perfekten Lächeln und seinen guten Manieren war nur absolute Leere gewesen, und er hatte sie nicht wieder angerufen, nachdem Sara bei ihrem ersten Kuss in Tränen ausgebrochen war. Die Erfahrung mit dem zweiten Mann vor zwei Monaten war ein bisschen besser gewesen, aber vielleicht hatte sie sich das nur eingeredet. Sie hatte ein Mal mit ihm geschlafen, nach vier Gläsern Wein. Sara hatte dabei die ganze Zeit die Zähne zusammengebissen, als wäre der Akt ein Test, den sie unbedingt bestehen wollte. Der Mann hatte bereits am nächsten Tag mit ihr Schluss gemacht, was sie aber erst merkte, als sie eine Woche später ihren Anrufbeantworter zu Hause abhörte.
Wenn es eines gab, das sie an ihrem Leben mit Jeffrey bedauerte, dann war es das: Warum hatte sie ihn nicht öfter geküsst? Wie die meisten Ehepaare hatten sie eine geheime Sprache der Intimität entwickelt. Ein langer Kuss signalisierte normalerweise Lust auf Sex, nicht nur simple Zuneigung. Hin und wieder gab es ein Küsschen auf die Wange oder einen schnellen Kuss, bevor sie zur Arbeit gingen, aber nicht wie damals, als ihre Beziehung begann – als leidenschaftliche Küsse prickelnde und exotische Geschenke waren, die nicht unbedingt dazu führten, dass man sich gegenseitig die Kleider vom Leib riss.
Sara wollte zurück zu diesem Anfang, wollte noch einmal diese langen Stunden, Jeffreys Kopf auf ihrem Schoß, genießen, ihn tief küssen, mit ihren Fingern durch seine weichen Haare fahren. Sie sehnte sich nach diesen gestohlenen Augenblicken in geparkten Autos und Hausgängen und Kinos, in denen Sara dachte, sie würde aufhören zu atmen, wenn sie seinen Mund nicht auf ihrem spürte. Sie wollte diese Überraschung, ihm bei der Arbeit zusehen, diesen Ruck in ihrem Herzen, wenn sie ihn die Straße entlanggehen sah. Sie wollte das Kribbeln im Bauch, wenn das Telefon klingelte und sie seine Stimme hörte. Sie wollte den Blutandrang in ihrer Mitte, wenn sie allein im Auto fuhr oder in der Drogerie einen Gang entlangging und seinen Duft auf ihrer Haut roch.
Sie wollte ihren Liebhaber.
Der Vinylvorhang öffnete sich mit leisem Quietschen in der Führungsschiene. Jill Marino, eine der Intensivschwestern, lächelte Sara zu, als sie Annas Krankenakte aufs Bett legte.
» Eine gute Nacht gehabt?«, fragte Jill. Sie eilte geschäftig durchs Zimmer, kontrollierte die Leitungen, überprüfte, ob
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