Sara Linton 01 - Tote Augen
eine Meinungsverschiedenheit über die Zeit, wann sie sich in einem Restaurant treffen sollten. An ihren zweiten Hochzeitstag, als er gedacht hatte, eine Fahrt nach Auburn zu einem Football-Spiel sei ein romantisches Wochenende. An einen Ausflug zum Strand, als sie eifersüchtig geworden war wegen der Aufmerksamkeit, die eine Frau an der Bar ihm schenkte.
Er wusste, wie man das Radio im Bad reparierte. Er liebte es, ihr auf langen Reisen vorzulesen. Er fand sich mit ihrer Katze ab, die an dem Abend, als er offiziell in ihr Haus einzog, in seine Schuhe pinkelte. Er bekam Lachfältchen um die Augen, und sie küsste sie gern und dachte daran, wie wunderbar es war, mit diesem Mann älter zu werden.
Und wenn sie jetzt in den Spiegel schaute und ein neues Fältchen in ihrem Gesicht sah, dann konnte sie nur daran denken, dass sie ohne ihn älter wurde.
Sara wusste nicht, wie lange sie getrauert – oder ob sie überhaupt je aufgehört hatte. Ihre Mutter war immer die Starke gewesen und nie stärker denn zu der Zeit, als ihre Tochter sie brauchte. Tessa, Saras Schwester, hatte tagelang bei ihr gesessen, sie manchmal gehalten und gewiegt, als wäre sie ein Kind, das man trösten musste. Ihr Vater reparierte Sachen im Haus. Er brachte den Müll hinaus und ging mit dem Hund spazieren und zur Post, um ihre Sendungen abzuholen. Einmal fand sie ihn schluchzend in der Küche, er flüsterte: » Mein Kind … mein eigenes Kind …« Er weinte nicht um Sara, sondern um Jeffrey, denn er war der Sohn gewesen, den ihr Vater nie gehabt hatte.
» Sie ist völlig aufgelöst«, hatte ihre Mutter am Telefon leise Tante Bella zugeflüstert. Es war eine alte Redewendung, die die meisten gar nicht mehr verwendeten. Die Formulierung passte so perfekt zu Sara, dass sie sich ihr völlig auslieferte, sich vorstellte, wie ihre Arme und Beine sich von ihrem Körper lösten. Na und? Wozu brauchte sie Arme oder Beine oder Hände oder Füße, wenn sie nicht mehr zu ihm laufen, wenn sie ihn nicht mehr halten oder berühren konnte? Sara hatte sich nie als Frau gesehen, die einen Mann brauchte, um ihr Leben komplett zu machen, aber irgendwie war es so gekommen, dass Jeffrey sie definierte, dass sie sich ohne ihn am Ende fühlte.
Jeden Tag sagte sich Sara, dass sie aufhören würde, die Tabletten zu nehmen, aufhören würde, jede schmerzhafte Minute zu verschlafen, Minuten, die so langsam vergingen, dass sie meinte, Wochen wären vergangen, obwohl es nur Stunden waren. Als sie es schaffte, mit den Tabletten aufzuhören, hörte sie auf zu essen. Das war keine freiwillige Entscheidung. Alles schmeckte faulig in ihrem Mund. Die Galle kam ihr hoch, egal, was ihre Mutter ihr hinstellte. Sara ging nicht mehr aus dem Haus, pflegte sich nicht mehr. Sie wollte aufhören zu existieren, aber sie wusste nicht, wie sie das tun sollte, ohne alles zu verraten, woran sie je geglaubt hatte.
Schließlich war ihre Mutter zu ihr gekommen und hatte sie angefleht: » Entscheide dich. Entweder lebst du, oder du stirbst, aber zwinge uns nicht zuzusehen, wie du dich verzehrst.«
Mit kühlem Kopf überlegte Sara sich die Alternativen. Tabletten. Seil. Eine Waffe. Ein Messer. Nichts davon würde Jeffrey zurückbringen, und nichts davon würde ändern, was passiert war.
Noch mehr Zeit verging, die Uhr tickte in die Zukunft, während sie sich danach sehnte, dass sie in die Vergangenheit ginge. Kurz vor dem ersten Todestag erkannte Sara, dass, wenn sie nicht mehr da wäre, auch ihre Erinnerungen an Jeffrey nicht mehr da wären. Sie hatten keine gemeinsamen Kinder. Sie hatten kein überdauerndes Denkmal ihrer Ehe. Es gab nur Sara, und die Erinnerungen steckten fest in Saras Kopf.
Und so hatte sie denn keine andere Wahl gehabt, als sich zusammenzureißen und diese Selbstauflösung rückgängig zu machen. Langsam fing ein schwächerer Schatten Saras wieder an zu leben. Sie stand morgens auf, joggte, arbeitete Teilzeit, versuchte, das Leben zu leben, das sie zuvor gehabt hatte, nur ohne Jeffrey. Sie hatte sich tapfer bemüht, sich durch diesen Abklatsch ihres früheren Lebens zu schleppen, aber sie schaffte es einfach nicht. Sie konnte nicht in dem Haus sein, in dem sie sich geliebt hatten, in der Stadt, in der sie miteinander gelebt hatten. Sie konnte nicht einmal zu einem typischen Sonntagsessen zu ihren Eltern gehen, weil da immer ein leerer Stuhl neben ihr stehen würde, diese Leere, die nie mehr gefüllt werden würde.
Das Stellenangebot des Grady Hospital war ihr von einem
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