Sara Linton 01 - Tote Augen
das Leben genommen hatte. Er konnte sich nicht erinnern, wann eine Frau zum letzten Mal so mit ihm gesprochen hatte – ihm einen Rettungsring zugeworfen hatte, anstatt ihn anzuschreien, er solle kräftiger schwimmen, so wie Faith es tat, oder schlimmer noch, seine Beine zu packen und ihn noch weiter hinunterzuziehen, wie Angie es immer versuchte.
Will lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Er wusste, er musste Sara aus seinen Gedanken verdrängen. Vor ihm lag ein Fall, der seine ungeteilte Aufmerksamkeit erforderte, und Will zwang sich dazu, sich allein auf die Frauen zu konzentrieren, bei denen er etwas bewirken konnte.
Anna und Jackie waren vermutlich zur selben Zeit aus der Höhle geflohen, Jackie war unfähig, zu hören oder zu sehen, Anna war höchstwahrscheinlich blind. Die Frauen dürften zu keiner Kommunikation fähig gewesen sein außer durch Berührung. Hatten sie sich bei den Händen gehalten und waren blindlings vorwärtsgestolpert, während sie versuchten, aus dem Wald herauszufinden? Irgendwie waren sie getrennt worden, hatten einander verloren. Anna musste gewusst haben, dass sie auf einer Straße war, musste den kühlen Asphalt unter ihren nackten Fußsohlen gespürt, das Brausen des herannahenden Autos gehört haben. Jackie war einen anderen Weg gegangen – hatte sich einen Baum gesucht, war hinaufgeklettert zu etwas, das sich für sie wie Sicherheit angefühlt haben musste. Dann warten. Jedes Ächzen eines Baums, jede Bewegung der Äste musste ihr Panik durch den Körper gejagt haben, wartete sie doch darauf, dass ihr Entführer sie fand und sie an diesen kalten, dunklen Ort zurückschleppte.
Sie hatte wohl ihren Führerschein, ihre Identität, in der einen Hand gehalten, das Werkzeug zu ihrem Tod in der anderen. Es war eine beinahe unfassbare Entscheidung, die sie treffen musste. Herunterklettern, ziellos umherlaufen und nach Hilfe suchen und dabei eine erneute Gefangennahme riskieren? Oder sich die Klinge in die eigene Brust stoßen? Ums Leben kämpfen? Oder die Kontrolle übernehmen und es nach eigenem Willen beenden?
Die Autopsie bewies ihre Entscheidung. Die Klinge war ins Herz eingedrungen und hatte die Hauptarterie durchtrennt, sodass der Brustraum sich mit Blut füllte. Jackie war wahrscheinlich fast augenblicklich ohnmächtig geworden, ihr Herz hatte aufgehört zu schlagen, noch während sie vom Baum fiel. Das Messer glitt ihr aus der Hand. Der Führerschein glitt ihr aus der Hand. In ihrem Magen hatte man Aspirin gefunden. Es hatte ihr Blut verdünnt, sodass es noch lange nach ihrem Tod tropfte. Das waren die warmen Spritzer auf Wills Nacken. Als er nach oben schaute und die nach unten gestreckte Hand sah, hatte er geglaubt, sie wollte nach der Freiheit greifen, tatsächlich aber hatte sie es geschafft, ihre eigene zu finden.
Er öffnete eine große Mappe auf seinem Schreibtisch und breitete die Fotos aus der Höhle aus. Die Folterwerkzeuge, die Schiffsbatterie, die ungeöffneten Suppenkonserven – Charlie hatte alles dokumentiert und aus den Beschreibungen eine Überblicksliste angefertigt. Will stöberte in den Fotos, bis er die beste Aufnahme der Höhle fand. Charlie hatte sich am Fuß der Leiter hingekauert, wie Will es letzte Nacht getan hatte. Xenon-Scheinwerfer holten jeden Winkel und jede Nische aus dem Schatten. Will fand noch ein anderes Foto, auf dem die sexuellen Instrumente wie Artefakte bei einer Ausgrabung ausgebreitet lagen. Bei den meisten sah er auf den ersten Blick, wie sie benutzt wurden, aber einige waren so kompliziert, so grässlich, dass er einfach nicht begreifen konnte, wie sie funktionierten.
Will war so in Gedanken vertieft, dass sein Hirn erst mit Verzögerung das Klingeln seines Handys registrierte. Er klappte die beiden Teile auf und sagte: » Trent.«
» Hier ist Lola, Baby.«
» Wer?«
» Lola. Eines von Angies Mädchen.«
Die Prostituierte von gestern Abend. Will bemühte sich um einen möglichst sachlichen Tonfall, denn er war wütender auf Angie als auf die Nutte, die nur tat, was Schmarotzer immer taten – versuchen, aus jeder Beziehung etwas für sich herauszuschlagen. Doch Will war nicht Angies Ausputzer, und er hatte die Nase voll davon, dass diese Mädchen versuchten, ihn zu benutzen. Er sagte: » Hör zu, ich hole dich nicht aus dem Gefängnis. Wenn du eines von Angies Mädchen bist, dann bringe Angie dazu, dir zu helfen.«
» Ich kann sie nicht erreichen.«
» Na ja, ich auch nicht, also hör auf, mich anzurufen und um Hilfe zu
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