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Sara

Sara

Titel: Sara Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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kam es mir wie Mitternacht vor.
    »Wer ist da?« rief ich.
    Die Glocke hörte auf zu läuten. Einen Augenblick herrschte Stille, dann schrie eine Frau. Es kam von überall, quoll aus der sonnigen, staubüberfrachteten Luft wie Schweiß aus heißer Haut. Es war ein Schrei der Entrüstung, Wut, Trauer … aber vorwiegend, denke ich, des Grauens. Und ich schrie als Antwort. Ich konnte nicht anders. Ich hatte auf der dunklen Kellertreppe Angst gehabt, als ich eine unsichtbare Faust auf die Isolierung klopfen hörte, aber dies war viel schlimmer.
    Er hörte nicht auf, dieser Schrei. Er verhallte, wie das Schluchzen des Kindes verhallt war; verhallte, als würde die schreiende Person hastig einen langen Flur hinuntergetragen werden, weg von mir.
    Schließlich hörte es auf.
    Ich lehnte mich ans Bücherregal, preßte die Hand auf das T-Shirt und spürte den rasenden Herzschlag darunter. Ich rang nach Atem, und meine Muskeln hatten dieses seltsam explodierte Gefühl, wie man es nach einem schlimmen Schrecken empfindet.
    Eine Minute verging. Mein Herzschlag verlangsamte sich allmählich wieder, und mit ihm mein Atem. Ich richtete mich auf, machte einen unsicheren Schritt, und als meine Beine mich trugen zwei weitere. Ich stand an der Küchentür und sah ins Wohnzimmer. Über dem Kamin erwiderte Bunter der Elch glasäugig meinen Blick. Das Glöckchen um seinen Hals hing ruhig und lautlos da. Die Sonne brach sich funkelnd in einem Punkt auf der Seite. Das einzige Geräusch kam von dieser dummen Felix-Uhr in der Küche.

    Der Gedanke, der mich schon damals quälte, war der, daß die schreiende Frau Jo gewesen war, daß meine Frau in Sara Lacht spukte und Schmerzen litt. Tot oder nicht, sie litt Schmerzen.
    »Jo?« fragte ich leise. »Jo, bist du -«
    Das Schluchzen fing wieder an - das Geräusch eines verängstigten Kindes. Im selben Augenblick stieg mir wieder der eisenhaltige Geschmack des Sees in Mund und Nase. Ich hielt eine Hand an den Hals, würgte ängstlich, beugte mich über das Spülbecken und spie aus. Es war wie zuvor - statt eines Schwalls Wasser kam nichts als ein bißchen Spucke heraus. Das Gefühl des Ertrinkens war verschwunden, als wäre es nie dagewesen.
    Ich blieb stehen, wo ich war, hielt mich über das Spülbecken gebeugt am Tresen fest und sah wahrscheinlich aus wie ein Betrunkener, der die Party beendet hat, indem er den größten Teil der in Flaschen abgefüllten guten Laune wieder erbrach. So fühlte ich mich auch - benommen und benebelt, zu mitgenommen, um wirklich zu begreifen, was vor sich ging.
    Schließlich richtete ich mich auf, nahm das Handtuch, das über dem Griff der Geschirrspülmaschine hing, und wischte mir das Gesicht damit ab. Es war Tee im Kühlschrank, und ich wollte mehr als alles in der Welt ein großes, eiskaltes Glas davon. Als ich vor der Tür stand, erstarrte ich. Die Obst- und Gemüsemagneten bildeten wieder einen Kreis. In der Mitte stand:
    hilf ich ertrink
    Das war’s , dachte ich. Ich verschwinde von hier. Sofort. Heute noch .
    Aber eine Stunde später saß ich in meinem stickigen Arbeitszimmer, hatte ein Glas Tee neben mir auf dem Schreibtisch stehen (die Eiswürfel waren längst geschmolzen), trug nur eine Badehose und war vollkommen in der Welt versunken, die ich erschuf - die Welt, in der ein Privatdetektiv namens Andy Drake zu beweisen versuchte, daß John Shackleford nicht der Serienkiller mit dem Spitznamen Baseballmützenmörder war.

    So machen wir immer weiter: ein Tag nach dem anderen, eine Mahlzeit nach der anderen, ein Schmerz nach dem anderen, ein Atemzug nach dem anderen; Zahnärzte machen eine Wurzelbehandlung nach der anderen; Bootsbauer fertigen einen Rumpf nach dem anderen. Wenn man Bücher schreibt, schreibt man eine Seite nach der anderen. Wir wenden uns von allem ab, was wir kennen, und von allem, was wir fürchten. Wir studieren Kataloge, sehen Footballspiele an, entscheiden uns für Sprint statt AT&T. Wir zählen die Vögel am Himmel und wenden uns nicht vom Fenster ab, wenn wir die Schritte hinter uns hören, während etwas auf dem Flur näher kommt; wir sagen, ja, ich finde auch, daß Wolken manchmal wie etwas anderes aussehen - Fische und Einhörner und Männer zu Pferde -, aber in Wirklichkeit sind es nur Wolken. Sogar wenn Blitze in ihnen zucken, sagen wir, es sind nur Wolken, und wenden unsere Aufmerksamkeit der nächsten Mahlzeit, dem nächsten Schmerz, dem nächsten Atemzug, der nächsten Seite zu. So machen wir immer weiter.

Kapitel 16
    Das

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