Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sara

Sara

Titel: Sara Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
Vom Netzwerk:
lichtsüchtigen Falter unter der Verandaleuchte und ging meine Schlüssel durch, bis ich den gefunden hatte, den ich suchte. Er sah seltsam unbenutzt aus, und als ich mit dem Daumen über die gezackte Kante strich, fragte ich mich wieder, warum ich seit Jos Tod nie hierhergekommen war - außer für einige rasche Besorgungen bei Tage. Wäre sie am Leben gewesen, hätte sie mit Sicherheit darauf bestanden -
    Aber dann kam mir eine seltsame Erkenntnis: Es war nicht nur eine Frage von seit Jos Tod . Es war naheliegend, das zu denken - in den sechs Wochen auf Key Largo hatte ich kein einziges Mal anders daran gedacht -, aber nun, als ich wahrhaftig im Schatten der tanzenden Insekten stand (als stünde ich unter einer unheimlichen organischen Discokugel) und die Eistaucher über dem See hörte, fiel mir ein, daß Johanna zwar im August 1994 gestorben war, aber in Derry. In der Stadt war es unerträglich heiß gewesen … Warum waren wir also dort geblieben? Warum hatten wir nicht auf der schattigen Veranda dieses Hauses am See gesessen, in unseren Badesachen Eistee getrunken, den Booten zugesehen, die hin und her fuhren, und Bemerkungen über die Leistungen der verschiedenen Wasserskifahrer gemacht? Was hatte sie überhaupt auf diesem verfluchten Parkplatz von Rite Aid zu suchen gehabt, wenn wir in jedem anderen August Meilen von dort entfernt gewesen wären?
    Und das war nicht alles. Für gewöhnlich wohnten wir bis Ende September in Sara - es war eine friedliche, angenehme Zeit, so warm wie im Hochsommer. Aber 1993 waren wir zurückgefahren, als der August erst eine Woche alt war. Das weiß ich, weil ich mich erinnern kann, wie Johanna mich später
im Monat nach New York begleitete, irgendein Verlagsabschluß und der übliche dazugehörige Medienrummel. Es war knallheiß in Manhattan gewesen, im East Village sprühten die Hydranten, die Straßen der Stadt zischten. An einem Abend dieses Ausflugs hatten wir Das Phantom der Oper gesehen. Gegen Ende hatte sich Jo zu mir gebeugt und geflüstert: »O Scheiße! Das Phantom schnieft schon wieder!« Ich hatte mich den Rest der Vorstellung zusammenreißen müssen, um nicht unbeherrscht loszulachen. So gemein konnte Jo sein.
    Warum war sie in jenem August mit mir gekommen? Jo konnte New York schon im April oder Oktober nicht leiden, wenn es noch ganz hübsch ist. Ich wußte es nicht. Ich konnte mich nicht erinnern. Ich war nur sicher, daß sie nach Anfang August 1993 nicht mehr in Sara Lacht gewesen war … und es dauerte nicht lange, da war ich nicht einmal mehr dessen sicher.
     
    Ich steckte den Schlüssel ins Schloß und drehte ihn herum. Ich würde hineingehen, das Küchenlicht einschalten, mir eine Taschenlampe schnappen und zum Auto zurückgehen. Wenn nicht, würde ein betrunkener Kerl mit einer Hütte am südlichen Ende des Sees zu schnell angebraust kommen, hinten in meinen Chevy reinfahren und mich auf eine Milliarde Dollar verklagen.
    Das Haus war gelüftet worden und roch kein bißchen muffig; statt stickiger, abgestandener Luft roch ich das schwache, angenehme Aroma von Kiefernnadeln. Ich griff nach dem Lichtschalter neben der Tür, und dann fing irgendwo in der Schwärze des Hauses ein Kind an zu schluchzen. Meine Hand erstarrte in der Bewegung, mir wurde am ganzen Körper kalt. Ich geriet nicht gerade in Panik, aber jeder vernünftige Gedanke wich aus meinem Kopf. Es war Weinen, das Weinen eines Kindes, aber ich hatte keine Ahnung, woher es kam.
    Dann klang es ab. Es wurde nicht leiser, sondern klang ab , als hätte jemand das Kind genommen und trüge es jetzt auf einem langen Flur davon … nicht, daß so ein Flur in Sara Lacht existierte. Nicht einmal der in der Mitte des Hauses, der das Hauptgebäude mit den beiden Flügeln verbindet, ist besonders lang.
    Klang ab … klang ab … war fast verstummt.

    Ich stand mit kalter, kribbelnder Haut und der Hand am Lichtschalter in der Dunkelheit. Ein Teil von mir wollte abdüsen, wollte verschwinden, so schnell mich meine kurzen Beine trugen, wollte laufen wie der Pfefferkuchenmann. Aber ein anderer Teil - der vernünftige Teil - beruhigte sich bereits wieder.
    Ich legte den Schalter um, und der Teil, der weglaufen wollte, sagte: Vergiß es, wird nicht funktionieren, es ist der Traum, Dummkopf, dein Traum geht in Erfüllung. Aber es funktionierte doch. Das Licht in der Diele ging mit einem Schlag an, der die Schatten vertrieb und Jos plumpe kleine Töpfersammlung linker und das Bücherregal rechter Hand preisgab, Sachen,

Weitere Kostenlose Bücher