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Sara

Sara

Titel: Sara Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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waren fort, sogar der Schreibtisch war fort. Es sah aus wie ein Heimwerkerprojekt, das aufgegeben worden war, als neunzig Prozent der Arbeit getan waren. Jo war weggeschrubbt worden - abgekratzt worden -, und ich verspürte einen Augenblick lang irrationalen Zorn auf Brenda Meserve. Ich dachte daran, was meine Mutter normalerweise sagte, wenn ich aus eigenem Antrieb etwas getan hatte, das sie mißbilligte: »Hast ein bißchen zuviel des Guten getan, nicht wahr?« Dieses Gefühl hatte ich auch bei Jos kleinem Arbeitszimmer: Als Mrs. Meserve es komplett ausgeräumt hatte, hatte sie ein bißchen zuviel des Guten getan.
    Vielleicht war es nicht Mrs. M., die aufgeräumt hat , sagte die UFO-Stimme. Vielleicht war es Jo selbst. Schon mal daran gedacht, Sportsfreund?
    »Das ist Quatsch«, sagte ich. »Warum sollte sie? Ich glaube kaum, daß sie ihren Tod vorhergesehen hat. Wenn man bedenkt, was sie gerade gekauft hatte, einen -«
    Aber ich wollte es nicht sagen. Nicht laut. Das schien irgendwie keine gute Idee zu sein.
    Ich drehte mich um und wollte das Zimmer verlassen, als mir plötzlich ein bei dieser Hitze erstaunlich kalter Luftzug am Gesicht vorbeistrich. Nicht an meinem Körper; nur am Gesicht. Es war ein höchst außergewöhnliches Gefühl, als würden mir Hände flüchtig, aber sanft Wangen und Stirn tätscheln. Gleichzeitig hörte ich ein Seufzen in den Ohren … aber das ist nicht ganz richtig. Es war ein Raunen, das an meinen Ohren vorbei ging, wie eine hastig geflüsterte Botschaft.
    Ich drehte mich um und rechnete damit, daß ich die Vorhänge vor dem Fenster des Zimmers in Bewegung sehen würde … aber sie hingen vollkommen reglos herab.
    »Jo?« sagte ich, und als ich ihren Namen hörte, erschauerte ich so heftig, daß ich beinahe das Diktaphon fallen ließ. »Jo, warst du das?«

    Nichts. Keine Phantomhände, die meine Haut streiften, keine Bewegung der Vorhänge … die ich ganz sicher hätte sehen müssen, wenn da tatsächlich ein Luftzug gewesen wäre. Alles war ruhig. Nur ein großer Mann mit verschwitztem Gesicht und einem Tonbandgerät unter dem Arm, der an der Tür eines unmöblierten Zimmers stand … aber in diesem Augenblick war ich zum erstenmal wirklich davon überzeugt, daß ich nicht allein in Sara Lacht war.
    Und wenn schon? fragte ich mich. Selbst wenn das stimmen sollte, na und? Gespenster können niemandem etwas tun .
    Das dachte ich damals.
     
    Als ich Jos Atelier (ihr klimatisiertes Atelier) nach dem Mittagessen besuchte, war mein Zorn auf Brenda Meserve verraucht - sie hatte doch nicht zuviel des Guten getan. Die wenigen Sachen aus Jos kleinem Büro, an die ich mich besonders erinnerte - das gerahmte Quadrat ihres ersten Afghantuchs, der grüne Flickenteppich, ihr gerahmtes Poster der Wiesenblumen von Maine -, waren dort verstaut, zusammen mit fast allem anderen, woran ich mich erinnerte. Es war, als hätte Mrs. M. eine Botschaft geschickt - Ich kann Ihre Schmerzen nicht lindern oder Ihre Trauer bekämpfen, und ich kann nicht verhindern, daß die Wunden durch Ihre Rückkehr hierher wieder aufbrechen, aber ich kann alles, was schmerzlich für Sie sein könnte, an eine Stelle packen, damit Sie nicht unerwartet oder unvorbereitet darüber stolpern. Soviel wenigstens kann ich tun.
    Hier waren keine kahlen Wände; hier legten die Wände Zeugnis von Charakter und Kreativität meiner Frau ab. Ich sah Gestricktes (manches ernsthaft, manches aus einer Laune heraus), Batiktücher, Flickenpuppen, die aus dem, was sie ›Babycollagen‹ genannt hatte, herausragten, ein abstraktes Wüstengemälde aus Streifen gelber, schwarzer und orangefarbener Seide, ihre Blumenfotografien, auf dem Bücherregal sogar etwas, das wie eine unvollendete Skulptur von Sara Lacht persönlich aussah. Sie bestand aus Zahnstochern und Lutscherstielen.
    In einer Ecke standen ihr kleiner Webstuhl und ein Holzschrank mit einem Schild über dem Türknauf, auf dem zu lesen
war: JOS STRICKZEUG! FINGER WEG! In einer anderen stand das Banjo, das sie hatte spielen lernen wollen, dann aber doch aufgegeben hatte, weil ihr die Finger zu sehr weh taten. In der dritten standen ein Kajak und ein paar Rollerblades mit aufgestoßenen Kappen und kleinen purpurnen Pompons an den Enden der Schnürsenkel.
    Was meine Aufmerksamkeit jedoch am meisten auf sich zog, war das Ding auf dem alten Rollpult in der Mitte des Zimmers. An den vielen schönen Sommer-, Herbst- und Winterwochenenden, die wir hier verbracht hatten, wäre dieses Pult

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