Sarah Maclean
Stirn
sah er zu, wie sie die Karten ergriff und anfing, sie auszuteilen.
Er packte ihre Hand und hinderte sie am Weitermachen. In sei-
nem Blick loderte ein Gefühl, das sie nicht direkt identifizieren
konnte, sie wusste nur, dass es nichts Gutes verhieß. „Das ist
nicht dein Ernst." Sein Ton duldete keine Widerrede.
„Ich ..." Sie spürte die Gefahr und entschied sich für die
Wahrheit. „Nein, ist es nicht."
„Steht es auf deiner Liste?"
„Was? Nein!" Ihr Schock war so echt, dass er von ihrer Ehr-
lichkeit überzeugt war.
„Du bist viel zu viel wert, als dass du für irgendeinen Dan-
dy die Geliebte spielen solltest, Callie. Das ist keine glanzvol-
le Rolle. Auch keine romantische. Diese Frauen leben in einem
goldenen Käfig. Du jedoch solltest ein Piedestal bekommen."
Sie schnaubte verächtlich. „Danke, ich würde es vorziehen,
wenn man mich nicht mit Glacelederhandschuhen und Ent-
schuldigungen anfassen würde." Sie zog ihre Hand unter seiner
heraus. Die Berührung wurde allmählich unerträglich heiß. Zu
nahe an dem, was sie wirklich wollte - was sie ihr Leben lang
gewollt hatte.
„Entschuldigungen?"
Sie schloss kurz die Augen und nahm allen Mut zusammen.
„Ja. Entschuldigungen. Wie die, die du heute früh so wunder-
schön formuliert hast. Wenn ich jemand anders wäre ... deine
Opernsängerin ... die Frau nebenan ... hättest du dich dann
auch entschuldigt?"
Er wirkte verwirrt. „Nein ... aber du bist nicht diese Frauen.
Du hast etwas Besseres verdient."
„Etwas Besseres", wiederholte sie aufgebracht. „Genau das
meine ich doch! Du und die übrige Gesellschaft glaubt, dass es
besser ist, mich auf ein Piedestal von Anstand und Sitte zu set-
zen - was gut und schön gewesen wäre, wenn mich all die Zeit
auf diesem Piedestal nicht zur alten Jungfer hätte werden las-
sen. Vielleicht sollten unverheiratete junge Frauen wie unsere
Schwestern dort sitzen. Aber was ist mit mir?" Ihre Stimme
wurde leiser. „Hier oben bekomme ich doch nie eine Chance,
das Leben richtig auszukosten. Hier oben gibt es nur Staub
und unerwünschte Entschuldigungen. Der gleiche Käfig wie
bei der Frau nebenan ...", sie deutete zum Flur, „... nur anders
vergoldet."
Während dieses leidenschaftlichen Ausbruchs beobachtete er
sie reglos. Da er nicht reagierte, sah sie zu ihm auf, doch seine
Miene war unergründlich. Was verbarg er nur vor ihr?
„Gib die Karten aus."
Sie tat, wie geheißen, und das nächste Spiel verging schwei-
gend. Inzwischen war deutlich geworden, dass er nicht mehr
nur vingt-et-un spielte. Seine harte Miene verriet ihr, dass er
gewinnen wollte; bei dem Gedanken hämmerte ihr das Herz in
der Brust - was würde er nach ihrem Ausbruch tun?
Nach seinem Sieg warf er die Karten auf den Tisch. Schwei-
gend stand er auf, ging zur Anrichte und goss ihnen zwei Gläser
Whisky ein. Bei seiner Rückkehr bot er ihr ein Glas an.
Sie nahm es entgegen und nippte an der bernsteinfarbenen
Flüssigkeit, überrascht, dass sie diesmal nicht wie im Wirts-
haus husten musste. Im Gegenteil, der Alkohol verstärkte nur
die Wärme, die sie verspürt hatte, als sie darauf wartete, dass
Gabriel seinen nächsten Wunsch nannte.
Er ging zum Kamin und machte es sich in einem der beiden
Sessel dort bequem. Sie beobachtete ihn, während er ins Feu-
er starrte, fragte sich, was er wohl dachte. Überlegte er, ob er
sie nach Hause bringen sollte? Schließlich hatte sie an diesem
Abend genug gesagt, um nicht nur sich, sondern auch ihn in
Verlegenheit zu bringen. Ob sie sich entschuldigen sollte?
„Komm her." Die Worte durchmaßen den Raum, obwohl er
nicht von den tanzenden Flammen aufsah.
„Warum?"
„Weil ich es wünsche."
Vor einer Stunde hätte sie über diesen Befehl nur gelacht,
doch jetzt fühlte Callie sich aus irgendeinem Grund davon fas-
ziniert. Sie erhob sich und ging zu ihm. Kurz vor seinem rech-
ten Arm blieb sie stehen. Sie wartete; das Blut rauschte ihr in
den Ohren, und ihr eigener Atem schien den ganzen Raum zu
erfüllen.
Das Warten war quälend.
Und dann drehte er sich zu ihr um, maß sie mit gebieteri-
schem Blick und sagte: „Setz dich."
Das hatte sie nicht erwartet. Hölzern ging sie zu dem anderen
Sessel, doch er hielt sie auf, indem er hinzufügte: „Nicht dort,
Kaiserin. Hier."
Überrascht und verwirrt wandte sie sich zu ihm um. „Wo?"
Er streckte die Hand aus. „Hier."
Das Wort hallte im Zimmer nach. Er wollte, dass sie sich
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