Sarah Maclean
darüber nach, ihre Miene ein Bild des
Kummers. Als sie Callies Blick im Spiegel begegnete, standen
ihre Augen voll Tränen. „Nein", flüsterte sie. „Ich habe ihn so
geliebt, dass ich es einfach nicht ertragen hätte, nicht wieder-
geliebt zu werden."
Callie wischte sich eine Träne von der Wange. In diesem
Augenblick kehrte Madame Hebert zurück, die Gehilfin im
Schlepptau. Von dem Gespräch ihrer Kundinnen hatte die
Schneiderin nichts mitbekommen. Nastasia wandte sich der
Französin zu. „Lady Calpurnias Kleid ist wunderschön", sagte
sie. „Bitte arbeiten Sie mir auch eines aus diesem Stoff."
Madame Hebert meinte kurz angebunden: „Tut mir leid, Miss
Kritikos. Der Stoff ist nicht mehr vorrätig."
Nastasia musterte Callie prüfend von Kopf bis Fuß. „Nun,
mir scheint, es wird allmählich zur Gewohnheit, dass Sie die
Dinge bekommen, die ich gern hätte, Lady Calpurnia." Sie lä-
chelte verhalten. „Mögen Ihnen damit mehr Glück beschieden
sein als mir. Dieses Kleid wird dabei sicher hilfreich sein."
Callie neigte zur Antwort den Kopf. „Danke, Miss Kritikos.
Und wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf: Ich halte Sie
für ein großartiges Talent."
Nastasia stieg von dem Podest und versank in einem tiefen,
anmutigen Knicks, womit sie endlich Callies gesellschaftliche
Stellung anerkannte. „Sie sind zu freundlich, Mylady." Damit
ging sie mit Valerie in ein Nebenzimmer, wo vermutlich weitere
Kleider zu Nastasias Begutachtung ausgebreitet lagen. Sie sah
der Griechin nach, überrascht und bekümmert über den Ver-
lauf, den ihr Gespräch genommen hatte.
Sie drehte sich zu der Schneiderin um, die sie neugierig be-
trachtete, und lächelte ihr tränenfeucht zu. Ihr war natürlich
bewusst, was Madame Hebert dachte: Was hatten sich eine
Opernsängerin und die Schwester eines Earls nur zu sagen?
Die Französin führte ihren Salon jedoch schon zu lange, um
ein Risiko einzugehen und ihre Kundinnen mit neugierigen
Fragen zu ihrem Privatleben zu belästigen. Stattdessen zwang
sie ihr Geschäftssinn, sich auf Callies Rocksaum zu konzen-
trieren.
Madame Hebert passte die Rocklänge an, gab ihrer Gehilfin
ein paar Anweisungen und verließ den Raum. Schweigend be-
gann das Mädchen, den Saum abzustecken, während Callie sich
das Gespräch mit Nastasia noch einmal durch den Kopf gehen
ließ. Die Worte der Sängerin übten eine ziemliche Macht aus:
Für Callie waren sie wie ein Schlag ins Gesicht gewesen. Na-
türlich war ihr die Wahrheit bewusst gewesen, Ralston würde
nie dazu fähig sein, sie so zu lieben, wie sie sich das wünschte,
doch Nastasias Geschichte - die sie sofort als wahr erkannt hat-
te - verstärkte nur noch Callies Kummer.
Sie sah auf ihr Spiegelbild, das allmählich in Tränen ver-
schwamm. Selbst wenn sie jeden Tag so schön wäre wie die Frau
im Spiegel, würde das Ralston nicht dazu bringen, sie zu lieben.
Wenn er jemand anders gewesen wäre - jemand, den sie nicht so
sehr oder auch gar nicht liebte -, hätte sie seinen Heiratsantrag
vielleicht angenommen. Aber sie träumte einfach schon zu lang
davon, die Seine zu sein. Seinetwegen war ihr eine Vernunftehe
einfach nicht mehr möglich. Sie wollte alles von ihm: seine Ge-
danken, seinen Körper, seinen Namen und vor allem sein Herz.
Vielleicht war es ein Fehler gewesen, ihn abzuweisen. Viel-
leicht hätte sie die Gelegenheit wahrnehmen sollen, seine Mar-
chioness zu werden. Die Mutter seiner Kinder zu werden. Cal-
lies Herz zog sich zusammen, als sie sich kleine dunkelhaarige,
blauäugige Kinder vorstellte, die sich an ihre Röcke klammer-
ten. Aber vermutlich hatte Nastasia recht. Das größte Elend
wäre für sie nicht, ganz ohne ihn leben zu müssen, sondern mit
ihm zu leben, ohne ihn ganz zu bekommen.
Callie seufzte still und versuchte ihre trüben Gedanken zu
verscheuchen, um diese neue, schönere Version von sich zu be-
gutachten. Aus dem Verkaufsraum ertönte ein vertrautes La-
chen, und sie zwang sich zu einem Lächeln, als Juliana und
Mariana nach hinten stürmten und bei Callies Anblick abrupt
zum Stehen kamen.
„Oh, Callie ...", sagte Mariana gedämpft, fast ehrfürchtig.
„Du siehst wunderschön aus."
Mit einem Nicken nahm Callie das für sie so ungewohnte
Kompliment entgegen. „Ach, nein."
Juliana nickte eifrig. „Es stimmt. Du bist wunderschön."
Callies Wangen röteten sich. „Danke."
Langsam ging Mariana um ihre Schwester herum. „Das Kleid
ist absolut
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