Sarah Maclean
widerstehen und wirbelte aufgeregt
zu der Schneiderin herum. „Ach, ist das herrlich, Madame."
Die Schneiderin erwiderte Callies Lächeln. „Allerdings, das
ist es." Sie legte den Kopf schief und nahm Callies Spiegelbild
kritisch in Augenschein. „Der Rock muss ein wenig gekürzt
werden. Verzeihen Sie ... ich hole ein Mädchen, das mir beim
Abstecken des Saumes hilft."
Die Französin verschwand durch eine Tür, während Callie
sich wieder ihrem Spiegelbild zuwandte. Sie bewunderte den
Fall des Kleides, den herrlichen Schnitt - der so anders war als
alles, was in Londons Ballsälen derzeit zu sehen war und genau
richtig für ihre unfashionable Figur.
„Madame Hebert ist eine echte Künstlerin, nicht wahr?"
Callies Blick huschte zum Spiegel, aus dem sie ein Paar vi-
olette Augen musterte. Mit höflichem Lächeln entgegnete sie:
„Allerdings."
Nastasias Blick fiel auf Valeries Spiegelbild, und sie sah zu,
wie das Mädchen ein Stück Saum absteckte. Dann sagte sie läs-
sig: „Ralston haben ihre Arbeiten immer gefallen."
Unsicher wandte Callie den Blick ab. Sie hatte noch nie mit
irgend jemandes Geliebter gesprochen. Gewiss nicht mit der
Geliebten des Mannes, den sie liebte.
Nastasia fuhr ein wenig gelangweilt fort: „Sie brauchen nicht
vor mir zurückzuscheuen, Lady Calpurnia. Wir sind keine Mäd-
chen mehr, die gerade erst dem Schulzimmer entronnen sind,
wir sind erwachsene Frauen, nicht? Ich weiß, dass er jetzt mit
Ihnen liiert ist. Das ist der Lauf der Welt, meine Liebe."
Callie riss schockiert den Mund auf und schüttelte den Kopf.
„Er ist nicht... mit mir liiert."
Die Opernsängerin hob eine makellose Augenbraue. „Wollen
Sie mir ernsthaft erzählen, Ralston hätte Sie nicht verführt?"
Callie wurde rot und wandte erneut den Blick ab. Nastasia
lachte. Es klang ganz und gar nicht gemein, wie Callie eigent-
lich erwartet hätte, sondern amüsiert. „Sie haben das nicht von
ihm erwartet, stimmt's? Und doch möchte ich wetten, dass Sie
jeden Moment genossen haben. Ralston ist ein ganz besonderer
Mann ... ihm liegt mehr daran, dass seine Partnerin auf ihre
Kosten kommt, als er selbst." Callies Wangen waren flammend
rot, während die Griechin freimütig fortfuhr: „Ich hatte viele
Geliebte ... und nur einer war ebenso großzügig wie Ralston.
Sie haben Glück, dass er Ihr erster Mann ist."
Callie glaubte, vor Verlegenheit im Erdboden versinken zu
müssen. Auf der Stelle.
„Darf ich Ihnen einen kleinen Rat geben?"
Callie fuhr auf und sah die schwarzhaarige Schöne im Spie-
gel an. Nastasia schaute sie nicht länger an, sondern blickte zu
einem großen Fenster, durch das die Nachmittagssonne herein-
strömte. Nach einigen Augenblicken des Schweigens siegte bei
Callie die Neugier. „Bitte sehr."
Nastasia klang, als spräche sie von weit weg. „Als ich acht-
zehn war, ist mir der erste meiner Männer begegnet. Dimitri
war großzügig und freundlich, ein großartiger Liebhaber ... al-
les, was ich mir je erträumt hatte ... alles, wonach ich mich mein
Leben lang gesehnt hatte. Es war unvermeidbar, dass ich mich
in ihn verliebte. Diese Liebe überstieg alles, was ich kannte ...
alles, wovon ich gehört hatte ... sie hatte mythische Ausmaße.
Er war der einzige Mann, den ich je geliebt habe." Sie hielt
inne. Ein Ausdruck tiefen Kummers huschte über ihr Gesicht,
so schnell, dass Callie sich nicht ganz sicher war, ob sie sich
nicht getäuscht hatte. „Aber er konnte meine Liebe nicht erwi-
dern. Zu einem solchen Gefühl war er einfach nicht fähig. Und
so hat er mir das Herz gebrochen."
Unwillkürlich stiegen Callie die Tränen in die Augen, als sie
die traurige Geschichte der anderen Frau hörte. Sie konnte ihre
Neugier nicht bezähmen. „Was ist dann passiert?"
Nastasia zuckte elegant mit den Schultern. „Ich habe Grie-
chenland verlassen. Und meine Stimme hat den Sieg davonge-
tragen."
Valerie hatte ihre Aufgabe beendet und erhob sich, und Nas-
tasia schien aus weiter Ferne zurückzufinden. Ihr Blick klärte
sich, und sie inspizierte die Arbeit der jungen Frau im Spiegel.
„Ralston ist Ihr Dimitri. Passen Sie gut auf Ihr Herz auf."
Bedeutungsschwangeres Schweigen senkte sich herab, in
dem die beiden Frauen ihr Spiegelbild musterten. „Wenn Sie
noch einmal vor der Wahl stünden ... würden Sie ihn diesmal
auch ohne Liebe nehmen?", platzte Callie heraus und bereute
es, kaum dass sie die Frage gestellt hatte.
Nastasia dachte lange
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