Sarah Maclean
Schneiderin das bestellte Ballkleid und ein paar Stü-
cke von Julianas Garderobe fertiggestellt hatte.
Sie hatte die Nachricht als Zeichen betrachtet, dass sie den
Tag nicht mit Selbstmitleid verschwenden dürfe, und sich auf
einen Besuch bei der Schneiderin vorbereitet, ein Ausflug, den
sie nur wenig reizvoller fand als eine Beerdigung. Dennoch
brauchte sie unbedingt eine Ablenkung, und genau das würde
ihr die Französin in ihrem Salon bieten.
Sie hatte Mariana überredet, sie zu begleiten, worauf diese
zuerst aufgebrochen war, um Juliana in Ralston House abzuho-
len. Normalerweise wäre Callie mitgekommen, doch sie konnte
den Gedanken einfach nicht ertragen, dem Marquess an diesem
Tag noch einmal zu begegnen - so unwahrscheinlich das auch
sein mochte -, und so war sie allein zur Schneiderin gefahren,
stand nun am Eingang des Salons und wartete darauf, dass je-
mand von ihrer Anwesenheit Notiz nahm.
Im Schneidersalon war lebhafter Betrieb, Madame Hebert
war nirgendwo zu sehen, und ihre Gehilfinnen eilten rastlos
zwischen Anproberaum und Ladenlokal hin und her, die Arme
voller Stoffbahnen, Knöpfen, Spitzen und allerlei Applikati-
onen. Drei Damen standen im Verkaufsraum des Salons, be-
gutachteten die ausgestellten Modelle und lobten lauthals die
kunstvolle Arbeit der Näherinnen.
„Oh! Lady Calpurnia!", ertönte es da eifrig und mit schwe-
rem französischem Akzent. Valerie, Madame Heberts zuverläs-
sige Gehilfin, war aus dem rückwärtigen Teil des Salons gekom-
men und knickste nun eilig in Callies Richtung. „Ich soll Ihnen
von Madame Hebert ausrichten, dass es ihr leidtut, Sie warten
zu lassen. Sie bedient gerade noch eine andere Dame, ist aber
gleich für Sie da. Für den Nachmittag steht sie Ihnen ganz zur
Verfügung, und zwar ...", sie wedelte mit der Hand, weil ihr der
korrekte Ausdruck nicht einfiel, „... tout de suite ... sofort. Ja?"
„Ja, natürlich, ich warte."
„Valerie!", drang Madame Heberts Stimme aus dem Anklei-
dezimmer, und dann steckte die Französin den Kopf durch den
stoffverhängten Durchgang, der den Ankleideraum mit dem
Ladenlokal verband. „Bring Lady Calpurnia nach hinten. Ich
habe gleich für sie Zeit." Die Schneiderin winkte Callie mit ei-
nem ermutigenden Lächeln zu sich. Als sie und Valerie sich dem
Vorhang näherten, sagte Madame Hebert leiser zu ihrer Gehil-
fin: „Du kannst dann Miss Kritikos zu Ende bedienen."
Callie erstarrte mitten im Schritt, direkt vor dem Durch-
gang zum Ankleideraum. Hatte sie richtig gehört? War es mög-
lich, dass jenseits des Vorhangs Raistons ehemalige Geliebte
stand? Das hatte ihr an diesem Tag nun wirklich noch gefehlt.
Sie straffte die Schultern und wappnete sich, den Raum zu be-
treten. Nastasia Kritikos kannte Callie sicher gar nicht, daher
würde Callie einfach so tun, als wüsste sie ebenfalls nicht, wer
die Opernsängerin war.
Sie schob sich durch die Vorhänge und entdeckte, dass eine
solche Entscheidung weitaus leichter getroffen als umgesetzt
war. Nastasia stand mit dem Rücken zum Durchgang in der
Mitte des Anproberaums auf einem Podest, überlebensgroß.
Callie staunte über die kurvenreiche Figur der Primadonna,
die schmale Taille, die wohlgerundeten Hüften und die üppigen
Brüste. Die Griechin drehte sich vor dem riesigen Spiegel hin
und her und betrachtete sich und ihr atemberaubendes schar-
lachrotes Kleid kritisch von allen Seiten. Die Robe schmiegte
sich an Nastasias hochgewachsene Gestalt. Das Mieder wurde
im Rücken von einer Reihe von eleganten Bändern gehalten, die
alle zu einer perfekten kleinen Schleife gebunden waren.
Callie schluckte; sie kam sich sofort blass und reizlos vor
und wünschte sich, sie hätte einen anderen Tag gewählt, um
ihr Kleid abzuholen. Als sie bemerkte, dass sie die andere Frau
anstarrte, fing Callie sich und drehte sich um, um Madame He-
bert zu folgen. Während sie hinter Nastasia vorbeiging, konnte
Callie es sich nicht verkneifen, noch einen Blick auf das Spie-
gelbild der Sängerin zu werfen und ihre Schönheit zu bestau-
nen. Sie und Ralston hatten sicher ein atemberaubendes Paar
abgegeben. Nastasia war großartig - mit einer Schönheit ge-
segnet, von der eine Frau wie Callie nur träumen konnte, wobei
ihr Porzellanteint, ihre glänzenden schwarzen Locken und ihr
schön geschwungener Mund nur einen Teil ihrer Anziehungs-
kraft ausmachten. Dafür waren im Grunde nicht einzelne Kör-
permerkmale verantwortlich,
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