Sarah Maclean
doch an diesem Abend war deutlich
geworden, dass die machtvolle Veränderung, die sie hatte mit-
erleben dürfen, nicht die seine gewesen war.
Sondern ihre.
Und sie hatte sie fast zur Gänze ihm zu verdanken.
Blind starrte sie auf die zerknitterte, fleckige Liste in ihrer
Hand - die Liste, die als ihre begonnen hatte, aber irgendwann
ihnen beiden gehört hatte. Ihr brach schier das Herz, als ihr klar
wurde, dass Ralston ein wesentlicher Teil dieser neuen, kühnen,
abenteuerlustigen Callie gewesen war, dass er sie durch jeden
Punkt auf ihrer Liste geleitet hatte. Durch seine Hilfe war sie
für immer verändert.
Wie sollte sie einen solchen Kummer überleben? Wie sollte sie
je vergessen, wie sehr sie ihn liebte?
Sie hatte keine Ahnung.
Sie wusste jedoch, dass sie in diesem Zimmer keinen Augen-
blick länger verweilen konnte. Deswegen sprang sie auf und
marschierte entschlossen durch ihr Schlafzimmer, öffnete die
Tür und begab sich durch das stille Haus zu Benedicks Arbeits-
zimmer. Sie würde versuchen, sich noch einmal zu betrinken.
Männer schienen Trost daraus zu ziehen, wenn es ihnen ganz
besonders schlecht ging, was also sollte sie davon abhalten,
dasselbe zu tun?
Sie betrat den Raum und blieb in der Tür stehen, überrascht,
ihren Bruder hinter dem riesigen Schreibtisch vorzufinden, den
Blick ins Leere gerichtet. Als er ihre Schritte auf dem Holzbo-
den hörte, schaute er auf, und sie sah, wie ein Schatten über
sein Gesicht huschte. „Callie", sagte er, und in seinem Ton lag
etwas, was ihr erneut die Tränen in die Augen trieb. „Es ist vier
Uhr morgens."
„Tut mir leid", sagte sie und machte sich daran, den Raum zu
verlassen.
„Nein." Er winkte und bedeutete ihr, doch hereinzukommen.
„Bleib hier."
Leise schloss sie die Tür hinter sich, tappte zum Schreibtisch
und ließ sich in einem gemütlichen Sessel gegenüber nieder. Sie
zog die bloßen Füße an. „Weißt du noch", sagte sie, und in ihrer
Stimme zitterten ungeweinte Tränen, „als ich klein war, habe
ich auch immer im Nachthemd in diesem Sessel gesessen und
Vater dabei zugesehen, wie er seine Papiere auf dem Schreib-
tisch sortiert hat. Lange habe ich gar nicht verstanden, wieso er
immer so viel zu tun hatte. Ich habe immer gedacht, es gehört
doch sowieso schon alles ihm, der Titel, das Haus, die Länderei-
en, die Sachen."
Benedick nickte. „Mir ging es genauso. Stell dir meine Über-
raschung vor, als ich herausfinden musste, dass all das tatsäch-
lich Arbeit macht, dass Vater nicht nur so getan hat."
Sie lächelte unter Tränen. „Es ist erstaunlich. Hier sitze ich
in meinem Nachthemd, in diesem Sessel, und schaue dir zu. Es
hat sich nicht viel verändert."
Benedick sah ihr in die Augen. „Callie?"
Da begannen die Tränen zu fließen, still und rasch stürzten sie
ihr die Wangen herab. Sie schüttelte den Kopf, schaute in ihren
Schoß und zupfte an ihrem Nachthemd herum. „Ich dachte, ich
könnte ihn ändern."
Benedick seufzte.
„Jetzt sehe ich auch, dass ich das nicht kann. Ich dachte nur ...
ich dachte nur, ich könnte ihn dazu bringen, mich zu lieben."
Er saß lange da und legte sich seine Worte sorgfältig zurecht.
„Callie ... Liebe muss wachsen. Nicht jeder empfindet Liebe auf
den ersten Blick, so wie unsere Eltern. Oder Mariana und Ri-
vington. Ralston war lange Zeit allein."
Die Tränen flossen weiter. „Ich liebe ihn", wisperte sie.
„Ist es nicht möglich, dass er dich auch liebt?"
„Er hat zweitausend Pfund auf meine Zukunft gewettet,
Benedick."
Ein schwaches Lächeln huschte über sein Gesicht. „Ich will
nicht leugnen, dass es ziemlich idiotisch von ihm war, das zu
tun ... aber ich kann mir nicht vorstellen, dass es bei der Wette
um mehr ging als um Stolz."
„Stolz?"
Er nickte. „Männlichen Stolz."
Callie schüttelte den Kopf. „Dein Geschlecht ist absolut bi-
zarr." Sie zuckte mit den Schultern. „Aber das heißt nicht, dass
er mich liebt. Ich bin mir nicht mal sicher, ob er sich überhaupt
etwas aus mir macht."
„Das ist doch albern", erklärte Benedick rundweg. „Mir wäre
am liebsten, wenn du und Ralston euch nie wieder seht, Callie,
bei dem ganzen Skandal, den ihr heute Abend hervorgerufen
habt - ganz zu schweigen von all den anderen Skandalen, die
ihr fraglos angezettelt habt, ohne mein Wissen -, nicht dass ich
je davon erfahren möchte." Er hielt inne. „Wie dem auch sei, du
vergisst, dass ich ihn gestern Abend gesehen
Weitere Kostenlose Bücher