Sarah Maclean
Augen wurden groß
wie Untertassen. Lieber Himmel. Er hielt sie für eine Dirne!
Auf diese schockierende Erkenntnis folgte rasch die nächste:
Der Butler hielt sie für Raistons Dirne. Was bedeutete, dass
Ralston hier war. Im Haus.
„Ich bin keine ..." Ihre Worte verklangen.
„Natürlich nicht, Madam." Sein Ton war höflich und ge-
messen, doch sie hatte das Gefühl, als hätte er dieselben Worte
schon von zahllosen anderen Frauen gehört. Frauen, die sich
nur um der Schicklichkeit willen unschuldig gaben.
Sie musste hier raus.
Es sei denn ...
Nein. Sie erstickte die leise Stimme. Kein „Es sei denn". Ihr Ruf hing an einem seidenen Faden. Es wäre sicherer für sie,
auf den dunklen Straßen Londons mutterseelenallein auf eine
Droschke zu warten, als diesem altersgebeugten Butler Gott
weiß wohin zu folgen.
In Raistons Privatgemächer.
Bei dem Gedanken hätte Callie sich beinahe verschluckt. Sie
würde nie wieder Sherry trinken.
„Madam?" In dem so höflich geäußerten Wort lag eine unaus-
gesprochene Frage. Würde Callie dem Butler folgen?
Dies war ihre Chance. Ob töricht oder nicht, jetzt hatte sie
Gelegenheit, das zu tun, was sie sich erhofft hatte, als sie sich
aus dem Haus geschlichen und eine Droschke angehalten hatte.
Sie hatte Ralston sehen wollen - um zu beweisen, dass sie über
Mut und Abenteuerlust verfügte. Und hier stand sie nun, ihr
Ziel in greifbarer Nähe.
Dies ist deine Chance zu beweisen, dass du nicht nur einfach
abwartest.
Sie schluckte und starrte stumm zu dem alten Mann empor.
Also gut. Sie würde ihm folgen. Und sie würde Ralston bitten,
ihr zu helfen, nach Hause zu kommen. Es wäre peinlich, aber er
würde ihr sicher helfen. Musste er doch. Sie war die Schwester
eines Earls, und er war ein Ehrenmann.
Hoffte sie.
Vielleicht aber auch nicht. Bei dem Gedanken überlief sie ein
heißer Schauer.
Sie schob ihn beiseite und stieß ein stummes Dankesgebet
aus, weil sie daran gedacht hatte, ihr schönstes Kleid anzuzie-
hen, bevor sie sich auf den Weg machte. Nicht dass Ralston das
lavendelblaue Seidenkleid sehen würde, das sie unter ihrem
schlichten schwarzen Reisemantel trug - sie hatte gewiss nicht
die Absicht, ihm zu offenbaren, wer sie war, es sei denn, dass
dies der letzte Ausweg war - aber das Bewusstsein, ihr schöns-
tes Kleid zu tragen, gab ihr Auftrieb. Sie lüpfte den Rock und
setzte den Fuß auf die erste Stufe.
Auf dem Weg nach oben hörte Callie von Weitem gedämpfte
Musik. Die Klänge wurden lauter, als der Butler sie gemesse-
nen Schrittes einen langen, schwach erleuchteten Korridor ent-
langführte. Vor einer großen Mahagonitür, hinter der die Musik
hervorperlte, blieb er stehen. Einen Augenblick machte Callies
Nervosität blanker Neugier Platz.
Der Butler klopfte zweimal, und dann ertönte ein lautes,
klares „Herein." Er öffnete die Tür, trat jedoch nicht über die
Schwelle. Stattdessen machte er einen Schritt zur Seite, um
Callie allein eintreten zu lassen, was sie auch tat, zögernd.
Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss. Sie stand in der Höhle des
Löwen, in einer Wolke aus Schatten und Musik.
Der große Raum war kaum erleuchtet, nur ein paar weni-
ge Kerzen spendeten ruhiges, anheimelndes Licht. Auch ohne
die tiefen Schatten war dies der maskulinste Raum, den sie je
gesehen hatte - er war ganz in dunklem Holz und satten, er-
digen Farben gehalten. Die Wände waren mit weinroter Seide
bespannt, auf dem Boden lag ein riesiger Webteppich, der nur
aus dem Orient stammen konnte. Die Möbel waren groß und
repräsentativ - an zwei Wänden streckten sich vollgestopfte
Bücherregale empor. Vor der dritten Wand stand ein ausladen-
des Mahagonibett, das mit mitternachtsblauem Stoff verhüllt
war. Als ihr Blick darauf fiel, musste sie an ihren Tagtraum von
Odysseus und Penelope denken - das Bett hatte anders ausge-
sehen, war aber ebenso verlockend gewesen.
Callie schluckte nervös, wandte den Blick von dem skan-
dalträchtigen Möbelstück ab und schaute stattdessen auf den
Hausherrn, der am anderen Ende des Raums mit dem Rücken
zur Tür an einem Pianoforte saß. Bisher war sie nicht auf die
Idee gekommen, dass ein Pianoforte in einem anderen Raum als
dem Musikzimmer oder dem Ballsaal stehen könnte - jedenfalls
nicht in einem Schlafzimmer. Er hatte sich bei ihrem Eintritt
nicht vom Piano abgewandt, sondern hob eine Hand, um jede
Unterbrechung zu unterbinden, die ihn in seinem Spiel
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