Sarah Maclean
der Droschke nach, als diese auf der dunklen
Straße davonfuhr und sie vollkommen allein zurück-
ließ.
Sie seufzte etwas erschrocken auf, als das Hufgetrappel in
der Ferne verklang und sie nur noch ihr stürmisch pochendes
Herz und das Blut in den Ohren hörte. Sie hätte auch mit dem
Whisky anfangen können. Auf jeden Fall hätte sie nie so viel
Sherry trinken dürfen.
Wenn sie den Abend enthaltsam verbracht hätte, stünde sie
nun gewiss nicht hier, vor dem Stadthaus eines der berüchtigts-
ten Lebemänner von ganz London, ganz allein und mitten in
der Nacht. Was habe ich mir nur dabei gedacht?
Offenbar hatte sie sich gar nichts dabei gedacht - ganz und
gar nichts.
Einen flüchtigen Augenblick erwog sie, zurück zur Haupt-
straße zu gehen und sich die nächste Droschke zu nehmen, doch
gleich darauf erkannte sie, dass ihr Ruf vollkommen zerstört
wäre, wenn sie dabei entdeckt würde.
„Dafür reiße ich Benedick den Kopf ab", murmelte sie vor
sich hin und zog sich die Kapuze ihres dunklen Mantels tiefer
in die Stirn. „Mariana auch." Natürlich war es weder Bene-
dick noch Mariana gewesen, die sie gezwungen hatten, in die
Droschke zu steigen und ihre Sicherheit und ihren guten Ruf
zu riskieren. Das hatte sie sich ganz allein selbst zu verdanken.
Also atmete sie tief durch und akzeptierte die Wahrheit... sie
hatte sich in eine unhaltbare Situation gebracht, sie stand kurz
vor dem absoluten Ruin, und ihre beste Chance, die Sache heil
zu überleben, lag innerhalb von Ralston House. Bei dem Ge-
danken verzog sie das Gesicht.
Ralston House. Lieber Gott. Was hatte sie getan?
Sie musste hineingehen. Etwas anderes blieb ihr gar nicht
übrig. Schließlich konnte sie nicht die ganze Nacht auf der
Straße stehen bleiben. Wenn sie erst einmal im Haus war, würde
sie den Butler bitten, ihr eine Droschke zu besorgen, und wenn
alles gut ging, läge sie binnen einer Stunde im Bett. Er würde
sich verpflichtet fühlen, ihr zu helfen. Schließlich war sie eine
Dame. Selbst wenn ihr Verhalten an diesem Abend nicht recht
dazu passen wollte.
Und wenn Ralston selbst ihr die Tür öffnete?
Callie schüttelte den Kopf. Erstens ging ein Marquess nicht
selbst an die Tür. Zweitens war es höchst unwahrscheinlich,
dass dieser spezielle Marquess um diese Zeit zu Hause war. Ver-
mutlich trieb er sich irgendwo mit einer Geliebten herum. Ein
Bild flackerte vor ihrem inneren Auge auf, das einer zehn Jahre
alten Erinnerung entstammte: von ihm in heißer Umarmung
mit einer atemberaubend schönen Frau.
Ja. Sie hatte einen schrecklichen Fehler begangen. Nun wür-
de sie einfach so schnell wie möglich entfliehen müssen.
Sie straffte die Schultern und ging auf den imposanten
Eingang von Ralston House zu. Kaum hatte sie den Türklop-
fer fallen lassen, als die große Eichentür aufschwang und ei-
nen altersgebeugten Butler offenbarte, der nicht im Mindesten
überrascht schien, vor dem Haus seines Brotgebers eine jun-
ge Frau zu entdecken. Er trat zur Seite, um sie hereinlassen,
und schloss die Tür hinter ihr, während sie sich in der warmen,
einladenden Eingangshalle zum Londoner Stadthaus des Mar-
quess of Ralston umsah.
Ohne nachzudenken, begann sie, die Kapuze zurückzuschie-
ben, erkannte dann aber, dass die Sache leichter für sie wäre,
wenn sie nicht erkannt werden konnte. Sie widerstand dem Im-
puls und sagte zu dem Dienstboten: „Vielen Dank."
Der Butler verneigte sich ehrerbietig und schlurfte zu der
breiten Treppe, die in die oberen Regionen des Hauses führte.
„Wenn Sie mir bitte folgen möchten?"
Folgen wohin? Callie erholte sich rasch von ihrer Überra-
schung. „Oh, ich hatte nicht die Absicht ..." Sie hielt inne, da
sie nicht recht wusste, wie sie den Satz beenden sollte.
Der Butler blieb am Fuß der Treppe stehen. „Gewiss nicht,
Madam. Es macht keine Mühe. Ich begleite Sie einfach an Ihr
Ziel."
„Mein ... mein Ziel?", fragte Callie zutiefst verwirrt und blieb
abrupt stehen.
Der Butler räusperte sich. „Das obere Stockwerk, Madam."
„Das obere Stockwerk." Allmählich fand sie selbst, dass sie
wie ein Dummkopf klang.
„Dort hält Seine Lordschaft sich im Moment auf." Der Butler
warf ihr einen neugierigen Blick zu, als stellte er ihre Geistes-
kräfte infrage, und wandte sich dann zur Treppe, um den Weg
in den ersten Stock anzutreten.
„Seine Lordschaft." Callie sah dem Butler nach, während ihr
allmählich die Wahrheit dämmerte. Ihre
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