Sarah Maclean
hätte
stören können.
Das Stück, das er spielte, klang dunkel und melodisch, und
Callie war sofort gefangen von der Mischung aus technischer
Begabung und Gefühl. Sie sah ihm zu, wie gebannt von seinen
Unterarmen, deren sehniges Muskelspiel von den lässig hoch-
gekrempelten Hemdsärmeln offenbart wurde, von seinen kraft-
vollen Händen, die über die Tasten tanzten, von der Rundung
seines Nackens, als er sich in tiefer Konzentration über das Ins-
trument beugte.
Nachdem er das Stück beendet hatte und die letzten Noten
verklungen waren, hob er den Kopf und blickte zur Tür. Da-
bei sah Callie die langen, muskulösen Beine, die in hautengen
Kniehosen und kniehohen Stiefeln steckten; das Stückchen
Haut, welches sein Hemd offenbarte, das er mit offenem Kragen
und ohne Krawattentuch und Weste trug, die mächtigen Schul-
tern, als er sich auf dem Stuhl rekelte.
Als er sie bemerkte, war ihm seine Überraschung nur daran
anzusehen, wie er kaum wahrnehmbar die Augen zusammen-
kniff, um im düsteren Licht zu erkennen, wer sein Besuch war.
Nie war sie dankbarer für ihren Kapuzenmantel gewesen wie
in diesem Augenblick. Ralston stand auf und verschränkte die
Arme.
Einem ungeschulten Auge wäre diese Haltung lässig erschie-
nen, doch Callies langjährige Beobachtung der Londoner Ge-
sellschaft hatte ihre Wahrnehmung geschärft: Er wirkte plötz-
lich irgendwie steif, angespannt, seine Armmuskeln traten
straff hervor. Er war nicht erfreut, Besuch zu bekommen. Zu-
mindest keinen weiblichen.
Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, um sich für ihr Ein-
dringen zu entschuldigen, um zu entfliehen, doch er kam ihr zu-
vor. „Ich hätte mir ja denken können, dass du es nicht hinneh-
men würdest, wenn ich unsere Verbindung beende. Allerdings
überrascht es mich doch, dass du die Dreistigkeit besitzt, mich
hier aufzusuchen."
Überrascht schloss Callie den Mund, während er fortfuhr.
Sein Ton war entschlossen, seine Worte kalt. „Ich wollte das
nicht schwieriger machen als nötig, Nastasia, aber anscheinend
bist du nicht bereit, meine Entscheidung zu akzeptieren. Es ist
vorbei."
Lieber Himmel. Er hielt sie für eine verflossene Geliebte! Zu-
gegeben, sie präsentierte sich nicht gerade als vornehme junge
Dame, schließlich war sie mitten in der Nacht ungebeten auf
seiner Türschwelle erschienen, aber das war wirklich zu viel!
Sie sollte ihn korrigieren.
„Nichts zu sagen, Nastasia? Na, das will aber nicht recht zu
dir passen, oder?"
Zu schweigen erforderte andererseits sehr viel weniger Mut,
als sich diesem imposanten Mann zu offenbaren.
Er stieß einen verärgerten Seufzer aus; offenbar missfiel ihm
die Einseitigkeit ihrer Unterhaltung. „Ich glaube, ich habe mich
nach der Beendigung unserer Vereinbarung überaus großzügig
gezeigt, Nastasia. Du darfst das Haus behalten, den Schmuck,
die Kleider - ich habe dir mehr als genug Köder gelassen, da-
mit du deinen nächsten Kunden schnappen kannst, findest du
nicht?"
Callie schnappte nach Luft, empört darüber, dass er eine Lie-
besaffäre so herzlos und unbekümmert beenden konnte.
Ihre Reaktion entlockte dem Marquess ein humorloses La-
chen. „Es besteht keinerlei Grund, die schockierte Miss zu
spielen. Wir wissen doch beide, dass dir die Naivität schon vor
Langem abhanden gekommen ist." Mit kühlem, unbewegtem
Ton verabschiedete er sie. „Du findest ja allein hinaus." Er
setzte sich wieder ans Klavier, kehrte ihr den Rücken zu und
begann zu spielen.
Callie hätte nie gedacht, dass sie sich einmal in eine der Kur-
tisanen würde einfühlen können, die sich als die Geliebten des
Adels an den Rändern des tons herumdrückten, aber sie kam
nicht umhin, sich anstelle der betreffenden Dame gekränkt zu
fühlen. Und dabei hatte sie Ralston für einen so großartigen
Mann gehalten!
Mit geballten Fäusten stand sie da, ein Bild weiblicher Ent-
rüstung, und fragte sich, was sie nun tun sollte. Nein ... was
sie tun sollte, wusste sie längst. Sie sollte diesen Raum, dieses Haus umgehend verlassen. Sie sollte in ihr stilles, ruhiges Leben zurückkehren und ihre alberne Liste vergessen. Aber das
war eben nicht das, was sie tun wollte.
Was sie tun wollte, das war, diesem Mann eine Lektion zu er-
teilen. Und ihr Zorn verlieh ihr den Mut zu bleiben.
Ohne aufzusehen, sagte er: „Ich möchte dich bitten, die Situ-
ation nicht noch unangenehmer zu machen, als du es ohnehin
schon getan hast,
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