Sarah Maclean
unmöglich. Es war albern, nur daran zu
denken.
Seufzend stand Callie auf, faltete das Papier und steckte es
ins Mieder ihres Kleids. Dann stellte sie Tinte und Federkiel
beiseite, löschte die Kerze und ging zur Tür. Gerade als sie die
Bibliothek verlassen und nach oben gehen wollte, hörte sie von
draußen ein Geräusch - leise und fremd.
Sie öffnete die Tür - nur einen Spaltbreit - und linste in den
dunklen Flur hinaus, mit zusammengekniffenen Augen, um
vielleicht doch irgendetwas zu erkennen. Vergeblich, es war so
dunkel, dass sie nichts sehen konnte. Allerdings stand fraglos
fest, dass sie nicht allein war: Durch den Türspalt drang leises
Kichern an ihr Ohr.
„Du bist so schön heute Abend. Vollkommen. Mein Allendale-
Engelchen."
„Solche Sachen musst du ja sagen ... um deiner Verlobten zu
schmeicheln."
„Meine Verlobte." Die Ehrfurcht in seinem Ton war unmiss-
verständlich. „Meine zukünftige Duchess ... meine Liebste ..."
Die Worte verklangen, eine Frau seufzte, und Callie schlug die
Hand vor den Mund, um das schockierte Lachen zurückzudrän-
gen, das ihr zu entschlüpfen drohte, als ihr klar wurde, dass
das dort draußen Mariana und Rivington waren. Sie erstarrte
einen Augenblick und blickte wild um sich, ungewiss, was sie
als Nächstes tun sollte. Sollte sie leise die Tür schließen und
warten, bis sie gegangen waren? Oder sollte sie so tun, als über-
raschte sie die beiden zufällig, um das geheime Stelldichein zu
unterbinden?
Ihre Gedanken wurden durch ein Aufkeuchen unterbrochen.
„Nein! Wir werden noch erwischt!"
„Und dann?", ertönte die Antwort mit einem männlichen La-
chen.
„Dann wirst du mich wohl heiraten müssen, Euer Gnaden."
Callie riss die Augen auf, als sie die erstaunliche Sinnlichkeit
in der Stimme ihrer kleinen Schwester hörte. Seit wann war
Mariana eine Verführerin?
Rivington stöhnte in der Dunkelheit auf. „Hauptsache, ich
bekomme dich so schnell wie möglich in mein Bett."
Diesmal lachte Mariana, völlig unangemessen. Und dann
wurde es still, und das Schweigen wurde nur hin und wieder
vom Geräusch von Lippen und Seide auf Haut durchbrochen.
Callie blieb der Mund offen stehen. Ja, sie sollte die Tür wirk-
lich zumachen.
Warum tat sie es dann nicht?
Weil es nicht gerecht war.
Es war einfach nicht gerecht, dass ihre kleine Schwester - die
so lang zu ihr aufgesehen hatte, die sich so lange Jahre immer
an sie gewandt hatte, wenn sie Rat, Führimg oder Freundschaft
brauchte - nun diese erstaunliche neue Welt der Liebe erlebte.
Marianas Debüt war ein rauschender Erfolg gewesen, sie hat-
te als die belle der Saison gegolten, und Callie war furchtbar
stolz auf sie gewesen. Und als Mariana Rivingtons Aufmerk-
samkeit erregt hatte, der besten Partie des tons, hatte Callie
sich mit ihrer kleinen Schwester gefreut.
Callie freute sich wirklich für Mariana.
Aber wie lange konnte sie noch fröhlich danebenstehen, wäh-
rend Mariana das Leben führte, das Callie immer für sich selbst
ersehnt hatte? Alles würde sich verändern. Mariana würde all
das tun, was Callie nie getan hatte. Sie würde heiraten, Kinder
bekommen, einen Haushalt führen und alt werden in den Ar-
men eines Mannes, der sie liebte. Und Callie würde hier in Al-
lendale House bleiben, eine alte Jungfer.
Bis Benedick eine Frau gefunden hat. Dann wird man mich
aufs Land schicken. Allein.
Callie schluckte die Tränen hinunter, wollte angesichts von
Marianas Glück nicht in Selbstmitleid versinken. Sie trat zur
Tür, um sie zu schließen und die Liebenden in Ruhe zu lassen.
Bevor sie dazu kam, sagte Mariana jedoch atemlos: „Nein, Ri-
vington, das könnten wir nicht. Meine Mutter würde uns beide
auspeitschen, wenn wir ihr die Hochzeit verderben würden."
Rivington stöhnte leise. „Sie hat doch noch zwei Kinder."
„Ja, aber ..." Eine kurze Pause trat ein, und Callie brauchte
ihre Schwester nicht einmal anzusehen, um ihre Gedanken zu
lesen. Wie hoch ist denn die Wahrscheinlichkeit, dass einer von
beiden demnächst heiratet?
„Benedick wird heiraten", erklärte Rivington. In seiner Stim-
me schwang Belustigung. „Er wartet einfach bis zum letzten
Moment."
„Wegen Benedick mache ich mir auch keine Sorgen."
„Mariana, wir haben doch schon darüber gesprochen. Sie ist
auf Fox Haven willkommen."
Empört riss Callie den Mund auf, als der Name von Riving-
tons Landsitz fiel. Sie? Meinten sie etwa sie selbst? Sie hatten
über ihr
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