Sarah Maclean
vielleicht
entgangen. „So selbstgewiss."
„Man steht nicht sein Leben lang am Rand des Ballsaals,
ohne zu erkennen, was man alles braucht, um Ballkönigin zu
werden, Mylord."
„Wenn jemand Juliana dabei helfen kann, diese haifischver-
seuchten Gewässer zu navigieren, dann sind das wohl Sie, Lady
Calpurnia." Die Worte verrieten einen Respekt, bei dem Callie
warm ums Herz wurde, was sie, ohne großen Erfolg, zu ignorie-
ren suchte.
Als der Walzer vorüber war, riskierte sie eine Bitte. „Dürf-
te ich vielleicht vorschlagen, dass Sie mich zu meiner Mutter
bringen?"
Sofort erkannte er, was sie bezweckte. „Glauben Sie, man
hält mich für geläutert, wenn man mich mit Ihrer Mutter plau-
dern sieht?"
„Schaden kann es jedenfalls nicht." Sie lächelte zu ihm auf,
während sie gemeinsam an der Tanzfläche entlangschlenderten.
„Sie vergessen einen der wichtigsten Grundsätze der Londoner
Gesellschaft."
„Und der wäre?"
„Ein vermögender, unverheirateter Marquess wird immer
gern auf der Sonnenseite empfangen."
Er hielt inne, ließ einen Finger langsam über ihre Knöchel
wandern und raunte ihr ins Ohr: „Und wenn ich mir gar nicht
sicher bin, ob ich die Dunkelheit verlassen will?"
Bei diesen Worten, eher geraunt als gesprochen, lief ihr ein
Schauer den Rücken hinunter. Sie räusperte sich. „Dafür ist es
zu spät, fürchte ich."
„Lord Ralston!", ertönte in diesem Moment die hohe, aufge-
regte Stimme ihrer Mutter. Sie waren bei Lady Allendale und
Mariana angelangt. Die beiden hatten anscheinend den gesam-
ten Walzer beobachtet und auf diesen besonderen Augenblick
gewartet. „Wir dürfen uns glücklich schätzen, dass wir Sie heu-
te Abend bei uns begrüßen dürfen."
Ralston verneigte sich tief. „Ich bin derjenige, der sich glück-
lich schätzen darf, dass er eine Einladung erhalten hat, Mylady.
Lady Mariana, Sie strahlen heute Abend förmlich. Darf ich Ih-
nen zur bevorstehenden Vermählung alles Gute wünschen?"
Mariana lächelte Ralston warmherzig an und reichte ihm die
Hand. „Danke, Mylord. Und darf ich sagen, dass ich sehr neu-
gierig auf Ihre Schwester bin? Callie hat so wunderbare Sachen
über sie erzählt."
„Lady Calpurnia war Juliana seit ihrer Ankunft eine gute
Freundin." Er blickte zu Callie und fügte hinzu: „Ich bin der
Ansicht, dass es niemanden gäbe, der besser geeignet wäre,
meiner Schwester zum Erfolg zu verhelfen."
„Darin haben Sie natürlich absolut recht, Mylord", erwider-
te Lady Allendale. „Callies Ruf ist tadellos. Außerdem ist eine
Frau in ihrem Alter und in ihrer Situation ideal geeignet, Miss
Juliana zu unterrichten."
Callie zuckte innerlich zusammen, als sie diese Worte hörte,
die - ob beabsichtigt oder nicht - ihren Status als unberühr-
bare alte Jungfer herausstrichen. Genauso gut hätte sie laut-
stark verkünden können, Callie habe ihr Gelübde als Nonne
abgelegt.
Lady Allendale fuhr fort: „Darf ich fragen, Mylord, wie Sie
und meine Tochter überhaupt zu dieser Vereinbarung kamen,
dass sie Ihre Schwester in die Gesellschaft einführen soll?"
Callie sah rasch zu Ralston hinüber; ihr schlug das Herz bis
zum Halse. Wie wollte er die Wahrheit umgehen? Doch er erwi-
derte nur ruhig: „Ich gestehe, Lady Allendale, dass die Verein-
barung meine Idee war. Ich hatte das außergewöhnliche Glück,
Lady Calpurnia zur rechten Zeitpunkt am rechten Ort anzu-
treffen, wie es so schön heißt. Ich weiß nicht, wie ich ihr die
großzügige Hilfe vergelten kann." Bei dieser Antwort weiteten
sich Callies Augen - hatte sie da einen neckenden Unterton he-
rausgehört? Sie wandte sich wieder ihrer Mutter zu, die von der
Antwort des Marquess zufriedengestellt schien - so als wäre es
nichts Ungewöhnliches, dass ein Lebemann in nicht ganz ge-
klärter Absicht die Gesellschaft ihrer unverheirateten Tochter
suchte.
Sie musste diese beschämende Situation beenden. Sofort.
Bevor ihre Mutter etwas wirklich Peinliches tat. Als reichte
es nicht schon, dass sie schimmernde auberginefarbene Seide
trug, die mit Pfauenfedern aufgeputzt war. Vielen Pfauenfe-
dern.
„Mutter, Lord Ralston hat angeboten, mich in den Erfri-
schungsraum zu begleiten", log sie - hoffentlich ebenso ge-
schickt wie Ralston - und wich dabei dem Blick des betreffen-
den Gentlemans aus. „Können wir dir etwas bringen?"
„Oh, nein, danke." Die Dowager Countess wedelte erst ab-
schätzig mit dem Fächer, legte Ralston dann die
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