Sarah Maclean
Blick
zu der Frau wandern, die mitten in dem riesigen Bett saß. Mit
trägem Grinsen begrüßte Nick die Geliebte seines Zwillings-
bruders. „Nastasia. Bitte die Störung zu entschuldigen."
Die griechische Schönheit rekelte sich wie eine Katze, sinn-
lich und genusssüchtig, ließ das Laken fallen, das sie sich in
gespielter Sittsamkeit vorgehalten hatte, und entblößte eine
üppige Brust. Mit verführerischem Lächeln sagte sie: „Lord
Nicholas, glauben Sie mir, das stört mich nicht im Geringsten.
Vielleicht möchten Sie ja mit uns zusammen ...", sie machte
eine kunstvolle Pause, „... frühstücken?"
Nick lächelte anerkennend. „Ein verlockendes Angebot."
Ralston achtete nicht weiter auf das Geplänkel und meinte:
„Nick, wenn du so erpicht auf weibliche Gesellschaft bist, hät-
test du doch auch anderswo anklopfen können, wo du meinen
Schlaf nicht hättest stören müssen."
Nick lehnte sich an den Türrahmen und ließ den Blick noch
ein Weilchen auf Nastasia ruhen, ehe er sich wieder seinem Bru-
der zuwandte. „Du hast tatsächlich geschlafen, Bruderherz?"
Entnervt drehte Ralston sich um und marschierte zu einer
Schüssel mit Wasser, die in einer Ecke des Zimmers stand. Wäh-
rend er sich Wasser ins Gesicht spritzte, knurrte er: „Das macht
dir wohl einen Riesenspaß, was?"
„Allerdings."
„Wenn du mir nicht gleich sagst, was du hier willst, Nick,
habe ich genug davon, einen kleinen Bruder zu haben, und wer-
fe dich raus."
„Interessant, wie passend du deine Worte wählst", erwiderte
Nick lässig. „Zufällig führt mich gerade deine Rolle als älterer
Bruder hierher."
Ralston hob den Kopf, um seinem Bruder in die Augen zu se-
hen.
„Es ist nämlich so, Gabriel: Anscheinend haben wir eine
Schwester."
„Eine Halbschwester."
Ralstons Ton war ausdruckslos, während er seinen Anwalt mit
starrem Blick fixierte, in der Hoffnung, dass der bebrillte Mann
endlich seine Nervosität überwand und die näheren Umstän-
de dieser erstaunlichen Neuigkeit offenbarte. Diese Einschüch-
terungstaktik hatte Ralston in den Spielhöllen ganz Londons
perfektioniert; er erwartete, dass sie auch hier Wirkung zeitigte
und der Anwalt zu reden begann.
Er täuschte sich nicht.
„Ich ... also, Mylord ..."
Ralston wandte sich ab, durchmaß das Arbeitszimmer und
goss sich etwas zu trinken ein. „Nun spucken Sie es schon aus,
Mann, ich habe nicht den ganzen Tag Zeit."
„Ihre Mutter..."
„Meine Mutter, wenn man die lieblose Kreatur, die uns zur
Welt gebracht hat, so nennen mag, hat England vor über fünf-
undzwanzig Jahren verlassen. Sie lebt jetzt auf dem Konti-
nent." Er ließ die bernsteinfarbene Flüssigkeit im Glas krei-
sen und setzte einen gelangweilten Blick auf. „Woher sollen wir
wissen, dass das Mädchen wirklich unsere Schwester ist und
nicht irgendeine Hochstaplerin, die aus unserer Gutgläubigkeit
Kapital schlagen möchte?"
„Ihr Vater war ein reicher venezianischer Kaufmann, er hin-
terließ ihr ein üppiges Erbe." Der Anwalt hielt inne, rückte sei-
ne Brille zurecht und warf Ralston einen wachsamen Blick zu.
„Mylord, er hatte keinen Grund, wegen ihrer Geburt zu lügen.
Im Gegenteil, nach allem, was ich höre, hätte er es wohl vorge-
zogen, Sie nicht auf ihre Existenz aufmerksam zu machen."
„Warum hat er es dann getan?"
„Sie hat sonst keine Familie mehr. Ein paar Freunde hät-
ten sie wohl aufgenommen. Laut der Dokumente, die mei-
ner Kanzlei zugesandt wurden, geht das alles jedoch auf Ihre
Mutter zurück. Sie hat verlangt, dass ihr ...", unsicher hielt er
inne, „... Gatte Ihre ... Schwester im Falle seines Todes hierher
schickt. Ihre Mutter war sich sicher, dass Sie ...", er räusperte
sich, „... Ihrer familiären Verpflichtung nachkommen würden."
Ralston lächelte freudlos. „Was für eine Ironie, dass ausge-
rechnet unsere Mutter an unseren Familiensinn appelliert."
Der Anwalt gab nicht vor, die Bemerkung misszuverstehen.
„In der Tat, Mylord. Aber wenn ich mir die Bemerkung erlau-
ben darf, das Mädchen ist bereits hier und sehr lieb. Ich bin mir
nicht sicher, wie ich weiter vorgehen soll." Er schwieg, doch
was er meinte, war offenkundig: Ich bin mir nicht sicher, ob ich
sie Ihnen überhaupt überlassen soll.
„Natürlich muss sie hierbleiben", meldete sich endlich auch
Nick zu Wort, was ihm die dankbare Aufmerksamkeit des An-
walts und einen verärgerten Blick seines Bruders eintrug. „Wir
nehmen sie bei
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