Sarah Maclean
uns auf. Bestimmt ist sie noch ganz durch-
einander."
„Allerdings, Mylord", stimmte der Anwalt bereitwillig zu, of-
fenbar froh über die Freundlichkeit in Nicks Blick.
„Mir war ja gar nicht bewusst, dass du in der Lage bist, der-
artige Entscheidungen in diesem Haus zu treffen, Bruderherz",
sagte Ralston schleppend, wobei er den Anwalt nicht aus den
Augen ließ.
„Ich verkürze nur einfach Wingates Qualen", erwiderte sein
Bruder und nickte dem Anwalt zu. „Du wirst eine Blutsver-
wandte nicht abweisen."
Natürlich hatte Nick vollkommen recht. Gabriel St. John,
Siebter Marquess of Ralston, würde seine Schwester nicht weg-
schicken, auch wenn er das insgeheim am liebsten getan hätte.
Er fuhr sich durch das schwarze Haar und staunte, wie viel
Zorn immer noch in ihm aufloderte, wenn er an seine Mutter
dachte, die er doch seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen hatte.
Sie hatte sehr jung geheiratet - mit kaum sechzehn - und
innerhalb eines Jahres Zwillinge zur Welt gebracht. Zehn Jah-
re später war sie verschwunden, auf den Kontinent geflüchtet,
und ihre Söhne und deren Vater waren voller Verzweiflung zu-
rückgeblieben. Für jede andere Frau hätte Gabriel Mitgefühl
empfunden, hätte ihre Angst verstanden und ihr die Flucht ver-
ziehen. Doch er hatte den Kummer seines Vaters miterlebt, hat-
te den Schmerz gefühlt, den der Verlust der Mutter verursacht
hatte. Und bei ihm war die Trauer heißem Zorn gewichen. Es
hatte Jahre gedauert, bis er von ihr sprechen konnte, ohne dass
es ihm vor Wut die Kehle zuschnürte.
Und jetzt, wo er erfahren musste, dass sie eine weitere Fami-
lie zerstört hatte, war die alte Wunde wieder aufgerissen wor-
den. Dass sie ein weiteres Kind zur Welt bringen würde - und
auch noch ein Mädchen - und sie zu einem Leben ohne Mut-
ter verdammte, machte ihn fuchsteufelswild. Natürlich hatte
seine Mutter sich nicht getäuscht: Er würde seiner familiären
Verpflichtung nachkommen. Würde tun, was er konnte, um ihre
Sünden gutzumachen. Und vielleicht war dies das Ärgerlichs-
te an der ganzen Situation: Dass seine Mutter ihn immer noch
verstand. Dass zwischen ihnen immer noch irgendeine Verbin-
dung bestehen mochte.
Er stellte das Glas ab und setzte sich wieder an den breiten
Mahagonischreibtisch. „Wo ist das Mädchen, Wingate?"
„Ich glaube, sie wurde im grünen Zimmer untergebracht, My-
lord."
„Nun, dann könnten wir sie ja mal herholen." Nick ging zur
Tür, öffnete sie und schickte einen draußen wartenden Lakaien
los, das Mädchen zu holen.
In dem darauffolgenden bedeutungsschweren Schweigen
stand Wingate auf und strich sich nervös die Weste glatt. „In
der Tat. Wenn ich etwas sagen dürfte, Sir?"
Gabriel warf ihm einen irritierten Blick zu.
„Sie ist ein sehr braves Mädchen. Sehr lieb."
„Ja. Das erwähnten Sie bereits. Trotz der offenkundigen Mei-
nung, die Sie von mir hegen, Wingate: Ich bin kein Ungeheuer,
das kleine Mädchen frisst." Er hielt inne, grinste schief. „Zu-
mindest nicht, wenn die kleinen Mädchen mit mir verwandt
sind."
Die Ankunft ihrer Schwester hielt Gabriel davon ab, sich an
der Missbilligung des Anwalts zu weiden. Stattdessen erhob er
sich, als die Tür geöffnet wurde, und begegnete stirnrunzelnd
dem so unheimlich vertrauten Blick aus blauen Augen.
„Lieber Himmel." Nicks Worte gaben genau wieder, was
Gabriel dachte.
Es bestand keinerlei Zweifel daran, dass die junge Frau ihre
Schwester war. Abgesehen von ihren Augen, die ebenso tiefblau
waren wie die Augen ihrer Brüder, hatte sie dasselbe kräftige
Kinn, dieselben dunklen Locken wie sie. Sie war das Ebenbild
ihrer Mutter - groß, geschmeidig, liebreizend, mit unleugbarem
Feuer im Blick. Gabriel fluchte leise in sich hinein.
Nick fasste sich als Erster und verneigte sich tief. „Enchante,
Miss Juliana. Ich bin Ihr Bruder Nicholas St. John. Und dies ...",
er deutete zu Ralston, „... ist unser Bruder Gabriel, Marquess of Ralston."
Sie knickste anmutig und deutete mit schmaler Hand auf
sich. „Ich bin Juliana Fiori. Ich muss sagen, ich habe nicht er-
wartet ..." Sie hielt inne, suchte nach dem Wort. „I gemelli. Entschuldigung, ich weiß nicht, wie das auf Englisch heißt."
Nick lächelte. „Zwillinge. Nein, ich könnte mir vorstellen,
dass unsere Mutter ebenfalls keine gemelli erwartete."
Das Grübchen, das sich nun in Julianas Wange zeigte, passte
genau zu Nicks. „Genau. Es ist ziemlich frappierend."
„Nun." Mit
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