Sarah Maclean
arrangieren."
Sie legte den Kopf schief, als dächte sie über sein Angebot
nach und ihre Möglichkeiten, ihm zu entrinnen. Schließlich
nickte sie zustimmend. „Zwei Monate. Keinen Tag länger."
„Na dann, willkommen in meinem Haus, kleine Schwester.
Du kannst dir oben ein Zimmer aussuchen."
Sie versank in einem tiefen Knicks. „Grazie, mein Bruder."
Sie wandte sich schon zur Tür, doch Nick plagte die Neugierde,
und er hielt sie zurück.
„Wie alt bist du?"
„Zwanzig."
Nick warf seinem Bruder einen flüchtigen Blick zu und mein-
te: „Du wirst in die Londoner Gesellschaft eingeführt werden
müssen."
„Das halte ich nicht für nötig, schließlich bin ich nur acht
Wochen hier." Die Betonung, die sie auf die letzten Worte legte,
war kaum zu überhören.
„Das alles besprechen wir, wenn du dich eingewöhnt hast",
sagte Ralston abschließend, geleitete sie zur Tür und rief nach
dem Butler. „Jenkins, bringen Sie Miss Juliana bitte nach oben,
und weisen Sie jemanden an, ihrer Zofe beim Auspacken zu
helfen." Er wandte sich an Juliana. „Du hast doch eine Zofe,
oder?"
„Ja", sagte sie amüsiert. „Muss ich darauf hinweisen, dass es
die Römer waren, die euch die Zivilisation brachten?"
Ralston hob die Augenbrauen. „Du hast wohl vor, recht
schwierig zu werden?"
Juliana lächelte ihn engelsgleich an. „Ich habe mich bereit
erklärt, hierzubleiben, nicht aber, den Mund zu halten."
Er wandte sich an Jenkins. „Sie wohnt ab jetzt bei uns."
Juliana schüttelte den Kopf und sah ihren Bruder an. „Für
zwei Monate."
Mit einem Nicken verbesserte er sich: „Sie wohnt fürs Erste
bei uns."
Angesichts dieser überraschenden Neuigkeit verzog der But-
ler keine Miene, sagte nur gelassen: „Sehr wohl, Madam", und
scheuchte mehrere Lakaien nach oben, damit sie Julianas Kof-
fer verräumten, ehe er die junge Dame nach oben geleitete.
Nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass seine Anord-
nungen befolgt wurden, schloss Ralston die Tür zum Arbeits-
zimmer und wandte sich an seinen Bruder, der mit trägem Lä-
cheln an der Anrichte lehnte.
„Gut gemacht, Bruderherz", sagte Nick. „Wenn der ton wüss-
te, dass du ein derart überbordendes Pflichtgefühl hast, wenn es
um die Familie geht ... wäre dein Ruf als gefallener Engel ein
für alle mal dahin."
„Du tätest gut daran, den Mund zu halten."
„Wirklich, es ist herzerfrischend. Der schlimme, schlimme
Marquess of Ralston, von einem Kind außer Gefecht gesetzt."
Ralston wandte sich von seinem Bruder ab und marschierte
zu seinem Schreibtisch. „Hast du nicht irgendwo eine Statue
herumliegen, die gesäubert werden müsste? Eine ältere Dame
aus Bath, die eine Skulptur besitzt, die sie unbedingt identifi-
ziert haben möchte?"
Nick zuckte nur mit den Schultern und ließ sich nicht ködern.
„Das habe ich zwar tatsächlich, aber die Dame muss eben war-
ten, zusammen mit meinen zahllosen anderen Verehrerinnen.
Ich will den Nachmittag viel lieber mit dir verbringen."
„Meinetwegen brauchst du nicht zu bleiben."
Nick wurde ernst. „Was geschieht in zwei Monaten? Wenn sie
immer noch abreisen will, du das aber nicht erlauben kannst?"
Als Ralston nicht antwortete, fuhr Nick eindringlich fort: „Für
sie war es nicht einfach. So jung von ihrer Mutter verlassen zu
werden ... und dann auch noch den Vater zu verlieren."
„Auch nicht anders als bei uns." Ralston gab sich ungerührt,
während er einen Stapel Briefe durchblätterte. „Außerdem ha-
ben wir unseren Vater kurz nach unserer Mutter verloren."
Nick ließ sich nicht beirren. „Wir hatten einander, Gabriel.
Sie hat niemanden. Wir wissen besser als jeder andere, wie es
ist, in ihrer Lage zu sein, von allen verlassen zu sein, die man je
hatte - die man je liebte."
Ralston begegnete Nicks Blick, in dem die düsteren Erinne-
rungen ihrer gemeinsamen Kindheit lagen. Die Zwillinge hat-
ten den Abgang ihrer Mutter überlebt, ebenso die tiefe Ver-
zweiflung, in die ihr Vater danach gestürzt war. Ihre Kindheit
war nicht angenehm gewesen, aber Nick hatte recht: Sie hat-
ten einander gehabt. Und das war für sie entscheidend gewe-
sen. „Von unseren Eltern habe ich vor allem eines gelernt: Die
Liebe wird stark überschätzt. Verantwortung ist viel wichtiger.
Ehrgefühl. Für Juliana ist es sicher gut, dass sie dies schon in
so jungen Jahren gelernt hat. Jetzt hat sie uns. Vermutlich ist
das für sie keine große Entschädigung. Aber es wird
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