Sarah Maclean
andere Küsse gegeben. Warum sollte ich sie auch
nicht genießen? Der Mann weiß offenbar, was er tut."
Anne räusperte sich. „Offenbar."
Callie warf ihrer Zofe einen Blick zu. „Er kann wirklich küs-
sen. Anne, so sind Sie noch nie geküsst worden."
„Da werde ich mich wohl auf Ihr Wort verlassen müssen."
Callie nickte ernst. „Ja. Ralston ist genau so, wie man es sich
erträumt ... im einen Moment nichts als verführerische Wor-
te und Blicke, dann nimmt er einen in den Arm, man weiß gar
nicht, wie einem geschieht..."
Verträumt hielt sie inne und sah zur Decke. Anne stand auf,
um die Gelegenheit zu ergreifen und Callie beim Auskleiden zu
helfen, doch bevor sie noch dazu kam, war Callie wieder wü-
tend geworden und stapfte auf und ab. „Und dann geht der Kerl
auf Abstand und sieht einen so selbstzufrieden an, wie es nur
ein richtiger Schuft kann. Und wenn man dann versucht, sich
zu verteidigen ..."
„Indem man ihn ohrfeigt?"
„Und wenn man dann versucht, sich zu verteidigen", wieder-
holte Callie, „wissen Sie, was er dann tut?"
„Nennt er einen dann feige?", fragte Anne ironisch.
„Er nennt einen feige! Das ist einfach unmöglich!"
„Kommt mir auch so vor", sagte Anne und löste rasch noch
ein paar Knöpfe an Callies Kleid.
Diesmal ließ Callie sie gewähren, bis Anne fertig war und ihr
aus dem Kleid half. Dann machte Anne sich an die Schnür-
brust, und Callie seufzte erleichtert auf, als das enge Mieder
gelöst wurde. Mit den Stäbchen schwand auch ein wenig von
ihrem Zorn.
Im Hemd stand sie da, schlang die Arme um sich und atmete
tief durch. Anne schob sie an den Frisiertisch und begann Cal-
lies langes braunes Haar auszukämmen. Das fühlte sich herr-
lich an, und Callie seufzte mit geschlossenen Augen.
„Natürlich habe ich den Kuss genossen", murmelte sie nach
einer Weile.
„Scheint mir auch so", sagte Anne nüchtern.
„Ich wünschte, ich würde mich in Raistons Nähe nicht immer
wie ein Dummkopf benehmen."
„Das haben Sie doch schon immer."
„Ja, aber jetzt bin ich viel öfter in seiner Nähe. Es ist anders."
„Inwiefern?"
„Zuvor habe ich von Ralston geträumt. Jetzt verbringe ich
wirklich Zeit mit ihm. Rede wirklich mit ihm. Lerne wirklich
den echten Ralston kennen. Er ist nicht länger ein Produkt
meiner Fantasie. Er ist aus Fleisch und Blut ... und ich frage
mich ..." Sie hielt inne, wollte nicht sagen, was sie dachte. Wenn er nun mir gehören würde?
Sie brauchte die Worte gar nicht auszusprechen; Anne hör-
te sie trotzdem. Als Callie die Augen aufschlug und im Spie-
gel Annes Blick begegnete, sah sie dort die Antwort ihrer Zofe:
Ralston ist nicht für Sie bestimmt, Lady Calpurnia.
„Ich weiß, Anne", sagte Callie leise.
Natürlich wusste sie es nicht. Nicht mehr. Vor wenigen Wo-
chen hätte Callie noch gelacht über die Vorstellung, dass Gab-
riel St. John überhaupt ihren Namen kannte ... ganz zu schwei-
gen davon, dass er bereit wäre, mit ihr zu plaudern. Und jetzt...
jetzt küsste er sie in dunklen Kutschen und dunklen Gängen ...
und erinnerte sie daran, warum sie sich von Anfang an so nach
ihm verzehrt hatte.
Er war an dem Abend unterwegs gewesen zu seiner Opern-
sängerin - dessen war Callie sich sicher -, und natürlich konnte
sie der griechischen Schönheit nicht das Wasser reichen. Zu mir
fühlt er sich ganz bestimmt nicht hingezogen.
Sie betrachtete sich im Spiegel, listete ihre Schwachpunk-
te auf: ihr durchschnittliches, langweiliges braunes Haar, ihre
übergroßen braunen Augen, ihr rundes Gesicht, so anders als
die herzförmigen Gesichter der Schönheiten, ihr allzu brei-
ter Mund, der nicht daran dachte, den obligatorischen Bogen
zu beschreiben. Bei jedem Punkt dachte sie an die Frauen, die
mit Ralston in Verbindung gebracht worden waren, alles wahre
Schönheiten, nach denen sich alle Männer umsahen.
Er hatte sie stehen lassen und war zu seiner Geliebten ge-
gangen, die ihn bestimmt mit offenen Armen empfangen hatte.
Welche halbwegs normale Frau würde das nicht tun?
Und Callie war zu ihrem kalten, leeren Bett zurückgekehrt...
und hatte vom Unmöglichen geträumt.
Tränen stiegen ihr in die Augen, und sie versuchte sie wegzu-
wischen, ehe Anne sie bemerkte, doch kamen sie bald so zahl-
reich, dass sie ihre Traurigkeit nicht länger verbergen konnte.
Sie schniefte, worauf ihre Zofe aufmerksam wurde, nach einem
Blick auf sie aufhörte, sie zu kämmen, und neben ihr in die Ho-
cke
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