Sarah Maclean
ging.
Callie ließ zu, dass die ältere Frau den Arm um sie legte,
und dann lehnte sie den Kopf an Annes Schulter und ließ den
Tränen freien Lauf. Sie schluchzte in das grobe Wollkleid der
Zofe, offenbarte endlich den Kummer, der sie schon seit Jah-
ren bedrückte. Nie hatte sie sich etwas anmerken lassen, we-
der auf den Hochzeiten ihrer Freundinnen noch auf Marianas
Verlobungsball, noch auf überhaupt irgendeinem gesellschaft-
lichem Ereignis während der letzten zehn Jahre - sie hatte ih-
ren Kummer verborgen, um das Glück der anderen nicht zu
überschatten.
Doch jetzt, wo Ralston ihre Sinne vollkommen durcheinan-
dergebracht hatte und sie an all das erinnerte, was sie sich
schon so lange gewünscht hatte und nie bekommen konnte, war
es einfach zu viel. Sie konnte es nicht länger unterdrücken.
Sie weinte eine lange Zeit, während Anne ihr beruhigend zu-
sprach und ihr über den Rücken strich. Als sie einfach keine
Energie für weitere Tränen mehr hatte, setzte Callie sich auf,
entzog sich Anne und bedankte sich mit einem tränenfeuchten
Lächeln. „Ich weiß nicht, was über mich gekommen ist."
„Ach, mein liebes Kind", sagte Anne in dem Ton, den sie Cal-
lie gegenüber angeschlagen hatte, als diese noch ein kleines
Mädchen war und weinend wegen irgendeiner Ungerechtigkeit
zu ihr gelaufen kam, „Ihr strahlender Held wird schon noch
kommen."
Das entlockte Callie nur ein schiefes Lächeln, denn das sagte
Anne schon seit Jahren. „Verzeihen Sie, Anne, aber da bin ich
mir wirklich nicht sicher."
„O doch, keine Angst", sagte Anne entschieden. „Und zwar
dann, wenn Sie es am wenigsten erwarten."
„Ich habe die Warterei einfach so satt." Callie lachte halb-
herzig. „Vielleicht habe ich mich deswegen einem so düsteren
Schuft zugewandt."
Lächelnd umfasste Anne Callies Wange. „Ich glaube, mir ist
es lieber, wenn Sie die Punkte auf Ihrer albernen Liste abhaken,
als sich in Raistons Gesellschaft zu begeben. An Ihrer Stelle
würde ich mich von ihm fernhalten."
„Das ist leichter gesagt als getan", erwiderte Callie. Der Mann
hatte etwas so überaus Unwiderstehliches an sich - anschei-
nend spielte es keine Rolle, dass er sie zur Weißglut trieb. Im
Gegenteil, seine Arroganz machte ihn für sie nur noch attrak-
tiver. Sie seufzte. „Vielleicht haben Sie recht. Vielleicht sollte
ich mich von Ralston fernhalten und mich wieder auf meine
Liste konzentrieren." Sie nahm die Liste vom Frisiertisch, auf
dem sie sie abgelegt hatte. „Allerdings gehen mir allmählich die
leichten Aufgaben aus."
Anne knurrte ungläubig, ehe sie trocken kommentierte: „Na-
türlich, in einem Wirtshaus Whisky zu trinken ist ja eine voll-
kommen leichte Übung. Was ist noch übrig?"
„Fechten, bei einem Duell dabei sein, eine Pistole abfeuern, in
einem Herrenclub spielen und im Herrensitz reiten", sagte sie.
Die letzten Punkte las sie lieber nicht vor - die wollte sie nicht
einmal ihrer engsten Vertrauten verraten.
„Hmm. Das ist wirklich eine Herausforderung."
„Allerdings", sagte Callie nachdenklich, biss sich auf die Un-
terlippe und betrachtete ihre Liste.
„Eines jedenfalls ist gewiss", sagte Anne.
„Was denn?"
„Für welchen Punkt Sie sich auch entscheiden, niemand wird
Sie feige nennen, wenn Sie ihn in Angriff nehmen."
Bei diesen Worten begegnete Callie Annes Blick, und nach
einem Moment überraschten Schweigens brachen die beiden
Frauen in Gelächter aus.
„Uff!" Callie umklammerte den Bettpfosten, während Anne
energisch an dem Stück Leinen zerrte, das sie um Callies Ober-
körper wand. „Ich finde, Sie könnten ruhig ein bisschen sanfter
vorgehen, Anne."
„Kann schon sein", erklärte die Zofe und führte den Stoff un-
ter Callies Armen hindurch und flach über ihre Brüste, „aber im
Augenblick fühle ich mich nicht besonders sanftmütig."
Callie sah auf ihren platt anliegenden Busen und lächelte,
obwohl es sich recht unbehaglich anfühlte. „Ja, schon gut, ich
weiß es zu schätzen, dass Sie Ihre Gefühle hintanstellen, um mir
zu helfen."
Anne knurrte nur streng und riss an dem Leinenstück. Kopf-
schüttelnd arbeitete sie weiter. „Die Brüste einbinden und
Männerkleider anziehen ... ich glaube, Sie sind verrückt ge-
worden."
„Unsinn. Ich probiere einfach mal etwas Neues aus."
„Etwas, bei dem Ihre Mutter Krämpfe bekommen würde,
wenn sie davon erführe."
Callie fixierte ihre Zofe mit einem scharfen Blick. „Sie
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