Sarah Maclean
prompt ausgesetzt."
„Das ist reichlich übertrieben."
„Finde ich nicht, Gabriel. Du hast den Pianisten in Angst
und Schrecken versetzt, den Tanzmeister gefeuert und unsere
Schwester aus dem Zimmer geworfen, ganz zu schweigen von
deiner Andeutung, ich sei kein echter Gentleman."
„Willst du etwa behaupten, du hättest nicht völlig scham-
los mit der Dame geflirtet?" Raistons Stimme klang fast schon
mürrisch.
„Geflirtet? Ja. Schamlos? Nein."
Ralston sah wieder auf den Park hinaus. Natürlich hatte Nick
nicht schamlos geflirtet.
Als sie herangereift waren, hatten die Zwillinge höchst un-
terschiedliche Wege gewählt, um den Einfluss ihrer Mutter ab-
zuschütteln, die den Ruf der Raistons so nachhaltig geschä-
digt hatte. Während Gabriel es genossen hatte, den niedrigen
Erwartungen des ton gerecht zu werden, was seine Frauenge-
schichten anging, war Nick den Erwartungen von Anfang an
entkommen, indem er beinahe ein Jahrzehnt auf dem Kontinent
verbracht und sich mit der Antike beschäftigt hatte. Natürlich
hatte sein Bruder auch seine Affären gehabt, doch Ralston hatte
nie erlebt, dass Nick sich so öffentlich an eine Frau gebunden
hatte, dass Gerüchte aufgekommen wären. Und das Ergebnis?
Beide Zwillinge waren bei den Frauen begehrt, doch aus sehr
verschiedenen Gründen. Ralston war ein stadtbekannter Lebe-
mann, Nick der vollkommene Gentleman.
„Wir haben sogar von dir geredet", fügte Nick hinzu, was sei-
nem Bruder einen überraschten Blick entlockte. Der jüngere St.
John nutzte die Chance, seinen Punkt zu verdeutlichen. „Sag
mir etwas. Woher weiß Lady Calpurnia, dass du gut spielst?"
Ralston machte eine kurze Pause, in der er die Frage über-
dachte. „Dass ich was gut spiele?"
„Das Pianoforte", erklärte Nick, als spräche er mit einem Kind.
„Weiß ich nicht."
Nick seufzte tief. „Du magst mir ja ausweichen, aber die Sa-
che ist doch ziemlich offensichtlich, Gabriel. Die einzige Mög-
lichkeit, wie sie in Erfahrung hätte bringen können, dass du ein
Virtuose am Pianoforte bist, wie sie es ausgedrückt hat, ist, dass
sie dich gehört hat. Und ich glaube nicht, dass ich dich je au-
ßerhalb deines Schlafzimmers habe spielen sehen. Eine solche
Angewohnheit ist nicht unbedingt etwas, womit ein Marquess
groß angibt."
Er hielt inne, wartete darauf, dass sein Bruder etwas sagte.
Als Ralston schwieg, fuhr Nick fort: „Dann ist sie also deine
Geliebte."
„Nein." Raistons Antwort kam wie aus der Pistole geschos-
sen. Sein Ton war scharf wie Säure, und er drehte sich in unge-
zügelter Heftigkeit zu seinem Bruder um. „Sie ist nicht meine
Geliebte. Und den nächsten Mann, der es wagt, darüber Speku-
lationen anzustellen, fordere ich zum Duell. Ganz egal, wer er
ist."
Die Drohung war eindeutig.
Überrascht blinzelte Nick seinen Bruder an. „Na so was. Das
war erhellend. Ich muss gestehen, es freut mich, das zu hören.
Ich hatte schon gehofft, dass sie ihre Ehre nicht so leichthin
aufgibt."
Da Ralston nichts erwiderte, sondern seinen Bruder nur wü-
tend anfunkelte, fuhr Nick fort: „Dir ist natürlich klar, dass
sie nicht zu den Frauen gehört, mit denen du sonst etwas an-
fängst."
„Ich habe nichts mit ihr angefangen."
„Nein, natürlich nicht." Nick winkte lässig ab. „Es ist ja auch
völlig normal, dass du mich an einem Tag zweimal wegen einer
Frau angehst."
„Ich bemühe mich, ihren guten Ruf zu wahren. Sie ist eng
mit Juliana verbunden. Wir können nicht riskieren, dass uns
irgendwelcher Klatsch ins Haus kommt", erklärte Ralston in
einem Versuch, Nick abzulenken.
„Bisher hast du dir doch auch nie etwas aus einem guten Ruf
gemacht", sagte Nick trocken.
„Bisher hatte ich auch keine Schwester."
Ungläubig hob Nick eine Augenbraue. „Ich glaube nicht, dass
es hierbei überhaupt um Juliana geht. Ich glaube, es geht um
Lady Calpurnia. Und ich glaube, dass du mehr riskierst als ih-
ren guten Ruf."
„Jedenfalls besteht kein Grund zu der Annahme, dass du mir
gegenüber ihre Ehre verteidigen müsstest, Nick. Du hast doch
gesehen, was für einen Blick sie mir zugeworfen hat, bevor sie
Juliana nachgegangen ist. Es würde mich nicht überraschen,
wenn dies das letzte Mal gewesen wäre, dass ich Lady Calpur-
nia Hartwell zu Gesicht bekommen habe."
„Wärst du über eine solche Wendung denn froh?"
„Aber ja."
„Dann wäre es in Ordnung, wenn ich ihr den Hof machen
würde?"
Die Worte trafen Ralston wie
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