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Sarahs Moerder

Sarahs Moerder

Titel: Sarahs Moerder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Longo
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von ’43 mitgemacht.«
    Ich schaute ihn an, ohne was zu sagen, weil ich nicht wusste, was er mit den vier Tagen meinte.
    »Als wir hier die Deutschen aus Neapel verjagt haben«, erklärte er.
    »Ach so.«
    Mir fiel auf, dass der Anwalt, während er sprach, einen Faden um den Finger wickelte, der aus dem Sessel hing. Mit dem Zeigefinger. Er wickelte ihn sich um, dann wieder ab, und danach wickelte er ihn sich wieder um.
    »Aber Sie sind ja wohl nicht hier, um sich uralte Geschichten von vor fünfzig Jahren anzuhören.«
    »Das interessiert mich aber.«
    Das sagte ich, weil ich nicht so recht wusste, wie ich anfangen sollte. Aber das hatte er wohl gemerkt und machte selbst den Anfang.
    »Ja, das interessiert Sie, aber eigentlich wollen Sie was über das Mädchen wissen, oder?«
    »Wenn es Ihnen nichts ausmacht …«
    »Ich bitte Sie. Erwarten Sie bloß nicht zu viel.«
    »Woran erinnern Sie sich, Avvocato?«
    »Ich kannte das Mädchen nur vom Sehen. Guten Tag, guten Abend, wie geht’s, das Übliche. Aber immer mit einem Lächeln, eine freundliche Geste ab und zu. Gut erzogen, man freute sich, sie zu sehen.«
    Er hustete und wischte sich den Mund mit einem Taschentuch ab.
    »Gestern Nachmittag, das muss gegen Viertel vor vier gewesen sein, hörte ich irgendwann einen Schrei. Eigentlich war ich nicht ganz sicher, weil ich nicht gut höre und Musik lief. Ich habe sofort leiser gestellt und habe nochmal Schreie gehört. Eine weibliche Stimme, ganz sicher. Dann, als ich es zum dritten Mal hörte, habe ich die Polizei gerufen. Das ist alles.«
    »Haben Sie sofort die Polizei gerufen?«
    »Ja … ja, sofort«, antwortete er, aber der Ton überzeugte mich nicht.
    Ich fragte ihn, warum er mir gestern nichts davon gesagt hatte, weder von den Schreien noch von seinem Anruf.
    »Sie wissen doch, wie das ist«, sagte er, »wenn so was passiert, denkt man immer, besser raushalten. Das gibt nur Ärger.«
    Dann starrte er ins Leere, als würden ihn andere, wichtigere Gedanken ablenken. Ich dachte nochmal über das nach, was er gesagt hatte, ob ich auch wirklich alles gefragt hatte. Aber es schien alles geklärt zu sein, und ich wollte grade aufstehen, als mir wie ein Blitz eine Frage durch den Kopf zuckte. Eine irgendwie heikle Frage, deshalb zögerte ich.
    »Entschuldigen Sie, Avvocato, eine Sache verstehe ich nicht.«
    Er lächelte freundlich.
    »Keine Scheu, fragen Sie ruhig.«
    Ich schwieg noch einen Moment, dann gab ich mir einen Ruck.
    »Als Sie das Mädchen schreien gehört haben, wieso sind Sie nicht rausgegangen und haben nach ihr gesehen?«
    Er lächelte traurig. Dann stand er auf, ging zu einer Vitrine, öffnete sie und nahm ein Glas, in das er einen Schluck Anisschnaps kippte. Die Uhr schlug Viertel nach vier. Er setzte sich wieder hin und trank seinen Anis.
    »Ich wollte raus, aber meine Frau hat mich an der Jacke gepackt. Halt, wo willst du hin?, hat sie gefragt. Bist du verrückt geworden? Die bringen dich um, du bist verrückt, bleib hier, was soll das, kümmer dich um deine Angelegenheiten. Sie haben sie ja erlebt. So ist sie nun mal …«
    Er hob den Arm und machte eine unbestimmte Geste ins Leere.
    »Die Ärmste, so ist sie eben. Und deshalb bin ich nicht raus, sondern habe die Polizei gerufen.«
    Der Blick des Anwalts verlor sich wieder, und auf einmal begriff ich, dass es genau das war, was ihn quälte und innerlich zerfraß. Für einen, der im Krieg gewesen war, der die Deutschen verjagt hatte, der zwei Kinder vor den Nazis gerettet hatte, für so einen ist es, auch wenn er inzwischen alt ist, beschämend, sich von den Schreien eines Mädchens Angst einjagen zu lassen.
    Dem Anwalt war es peinlich, und ich rührte mich eine Minute lang nicht. Aber ich konnte natürlich nicht bis Weihnachten sitzen bleiben.
    Ich stand auf.
    »Danke für die Unterstützung.«
    Er wollte mich begleiten.
    »Keine Umstände, Avvocato, ich kenne den Weg. Auf Wiedersehen.«
    Als ich ging, blieb er sitzen und starrte auf das leere Glas in seinen Händen.

10.
    Mir fiel mein Großvater ein. Bei der Arbeit auf den Booten hatte er immer eine blaue Mütze auf, mit einer Bommel obendrauf. Die nahm er nie ab, nicht beim Essen und auch nicht beim Schlafen. Nur einmal hab ich gesehen, wie er sie abnahm, bei der Beerdigung eines Freundes, als der Priester »Amen« sagte. Danach hat er sie gleich wieder aufgesetzt.
    Als er dann krank wurde und das Bett nicht mehr verlassen konnte, wollte er, dass ich zu ihm kam, um weiterzulernen.
    Er sagte, dass

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