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Sarum

Sarum

Titel: Sarum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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doch war sie, als Ganzes gesehen, von außerordentlicher Schönheit, denn diese primitive kleine Skulptur stellte Akun dar: Die prallen Brüste, der runde fruchtbare Bauch, die Hüften, die großen muskulösen Hinterbacken – der Jäger hatte das Wesen seiner Frau in Stein geschaffen, und er streichelte liebevoll darüber hin.
    Was war über ihn gekommen, daß er plötzlich einen Stein auf diese Weise bearbeitete? Er konnte es nicht sagen. Akun war fruchtbar, die Mutter seiner Kinder. Sie verkörperte alles, was er von einer Frau wußte. Die merkwürdige kleine Figur würde ihm sicher Glück bringen. Am nächsten Tag nahm Hwll sie mit in die neue Hütte, wo Ulla ihn erwartete. So lag er sieben Tage bei ihr, ehe er wieder zu Akun zurückkehrte. Diese Gewohnheit behielt er in verschiedenen Mondphasen den ganzen Winter und den folgenden Frühling bei. Und im Herbst gebar Ulla ein Kind, einen hübschen Jungen, der, anders als seine Halbgeschwister, keine langen Zehen hatte.
    Sieben weitere Jahre führte Hwll diese Lebensweise und zeugte drei weitere Kinder. Und jedesmal, wenn er bei Ulla lag, hatte er die kleine Steinfigur bei sich.
    Und wie Hwll unangefochten der Vater des Tales war, so herrschte keinerlei Zweifel darüber, wer die oberste Frau war. Akun erfreute sich, obwohl es zunächst nicht ihr Wille gewesen war, an den Vorteilen, die ihr nun zustanden. Täglich trat sie aus ihrem geschützten Lager auf dem Hügelkamm und ging den kleinen Erdwall entlang, vorbei an den knorrigen Bäumen. Das war das Zeichen für die Mädchen und jungen Frauen, aus dem unteren Lager heraufzukommen und ihre Anweisungen zu befolgen. Sie lehrte sie, das Wild zu häuten und die Häute der verschiedenen Tiere zu behandeln, sie lehrte sie, Fleisch zuzubereiten und haltbar zu machen. Manchmal ging sie mit allen Frauen in den Wald und zeigte ihnen Kräuter und Wurzeln.
    Die Zukunft des Tales schien gesichert. Der kleine Stamm, dessen Vater Hwll und Tep waren, bejagte das Gebiet mit Geschick und Erfolg. Mit Hwlls Hilfe fanden sogar Teps Söhne Bräute aus der Gegend. Er sah, wie sein eigener Sohn nun die Jagd leitete. Bald übernahm eine neue Generation die Führung, und Hwll war zufrieden. Und doch gab es etwas; zuerst wußte er nicht, was es war. Er und Akun, jetzt beide in den Dreißigern und sich dem Alter nähernd, konnten auf große Errungenschaften zurückblicken: Er hatte seine Familie ins warme Land geführt. Ihre Jagd war vom Glück begleitet, und sie hatten gute Familien aufgezogen. Man begegnete ihnen mit Ehrerbietung und Achtung.
    Doch nach jeder Jahreszeit wuchsen Unbehagen und Unrast in dem alten Jäger. Es war das tiefe Wissen, daß sein Werk nicht vollendet war, daß etwas von entscheidender Bedeutung noch fehlte. Er gewöhnte sich daran, allein auf den Höhen zu wandern, zog sich mehr vom Lagerleben zurück, sogar von Akun. Er verbrachte Tage dort oben, und dabei sprach er manchmal vor sich hin: »Zeige mir, was ich zu tun versäumt habe, welches Werk ich noch vollbringen muß.« Und eines Tages, als der Wind über die Bäume hinpfiff, hörte er die Antwort: »Du mußt es erzählen, Hwll. Du mußt die Geschichte deiner Reise und die deiner Vorfahren und von den Göttern erzählen, damit diese Dinge in Erinnerung bleiben und nicht verlorengehen.«
    »Wie soll ich sie erzählen?« rief er laut.
    Da antwortete die Stimme der Götter – denn dies mußte das Flüstern sein: »Höre!«
    Es war bereits Abend, als Hwll ins Lager hinunterkam, und seine Familie sollte nie den Blick vergessen, mit dem er näher trat. Sein faltiges Gesicht strahlte in einem Glanz, den sie nie vorher gesehen hatten, und der Blick seiner Augen kam von weit her.
    Was auch immer Hwll von den Göttern erfahren hatte, es sollte noch nicht weitergegeben werden, denn nur wenige Tage nachdem er von den Höhen herabgestiegen war, brach ein langer Winter herein.
    In diesem Jahr wollte er kein Ende nehmen. Manchmal dachte der alte Jäger: Bin ich nur deshalb von so weit her gekommen? Es war so bitter kalt, wie er es nur in der Tundra erlebt hatte. Der Fluß war dick zugefroren, und es kostete die Männer fast den ganzen Tag, ein Loch in das Eis zu hacken, um zu fischen.
    Akun und den Frauen waren die reichlichen Vorräte zu verdanken. Und neben frischem Fisch gab es auch vereinzelt Wild. So gab es keinen Grund zur Sorge.
    Nur etwas schmerzte Hwll – Akun. Sie hatte schon seit geraumer Zeit gewußt, daß bald ihr letzter Winter kommen würde. Anfangs waren es nur

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