Sarum
wenige Anzeichen: Ihre Gelenke wurden ein wenig steif, plötzlich lockerte sich ein Zahn, oder sie biß sich ihn an einem Knochen aus. Kürzlich waren ihr zwei Zähne ausgefallen. Sie hatte Gras in die Lücke gestopft und gehofft, Hwll würde es nicht bemerken. Sie wollte nicht wahrhaben, was da mit ihr geschah.
Doch in diesem Winter passierte ihr Schlimmeres. Es waren nicht nur die Gelenke; die hatten auch in den kalten feuchten Wintern früher schon geschmerzt, doch die Frühlingssonne hatte meist Besserung gebracht. Nein, diesmal war es anders, schwieriger zu bestimmen. Die Kälte kam von innen, und oft zitterte Akun, selbst wenn sie sich ans Feuer kauerte oder, in Felle gewickelt, neben Hwlls warmem Körper schlief. Ihr Leib wurde hager. Sie blickte traurig auf ihre einmal so schönen, jetzt schlaffen faltigen Brüste.
Und einmal in jenem langen Winter wachte sie auf und bemerkte, daß ihr alles gleichgültig geworden war. Da wußte sie ohne Bedauern: Dieser Winter ist mein letzter.
Der Frühling kam in jenem Jahr sehr spät, dafür mit ungeheuren Wassermassen. Die Sonne brach warm und stark durch. Das ganze Tal barst vor Leben, und der Fluß wurde wieder zum reißenden Strom. Hwll, grauhaarig, schmaler als früher, doch immer noch ein brauchbarer Jäger, führte Akun jeden Tag zu ihrem gewohnten Platz auf dem kleinen Erdwall über dem Tal – sie hatte keine Freude mehr daran. Wenn Hwll gegangen war, zog sie sich in ihr Haus zurück. Selbst im Sommer war sie nur für kurze Zeit zu bewegen, vors Haus zu gehen. Er sagte nichts, doch er hatte begriffen, und der Gedanke, sie bald verlieren zu müssen, tat weh.
Eines Nachts im Sommer, als die vielköpfige Familie um das Feuer an der Seite des kleinen Hügels über dem Taleingang saß und das süßlich duftende Wildfleisch verspeist und sich an den im Überfluß vorhandenen Beeren satt gegessen hatte, befahl Hwll Ruhe. Und dann begann er mit Worten, die der Wind ihm eingegeben hatte, sein Lebenswerk zu vollenden und den großen Schatz seines Wissens weiterzugeben.
In jener Nacht und noch oftmals erzählte er ihnen in Worten, die sie sich gut einprägen konnten, alles, was er wußte, damit die Vergangenheit seinen Tod überdauern würde. Er berichtete ihnen von der Eiswand und von der Tundra im Norden, von den großen Meeren im Westen und Süden und von den fernen Bergen und Wäldern im Osten. Er erzählte ihnen von den Göttern und der großen Landbrücke durchs Meer. Und dann erzählte er ihnen die ganze Geschichte, die er vom Wind gehört hatte, davon, wie das Meer sie abgeschnitten hatte.
»Im Anfang«, erklärte er, »gab es zwei große Götter: den Sonnengott und die Mondgöttin, die über alle Jäger wacht. Und sie hatten zwei Kinder, den Gott des Waldes und den Gott des Meeres. Und der Gott des Waldes lebte in dem großen Wald im Osten, der voll war von Wild. Und der Gott des Meeres lebte im Norden, nahe der Eiswand.« Als Hwlls Geschichte zu Ende war, schwiegen die Zuhörer eine ganze Weile, und sie wußten, daß seine Worte von den Göttern gekommen waren.
Als Hwll, drei Jahre nach Akun, starb, begruben sie ihn neben ihr auf der Höhe. Mit ihm begruben sie die kleine Steinfigur, die er von ihr gemacht hatte. Und für viele Generationen in Sarum blieb dies die Zeit des Jägers.
D AS H ÜGELGRAB
Während der folgenden 3500 Jahre ereignete sich auf der Insel Britannien, soweit wir wissen, recht wenig. Im Norden zog sich die Eishaube auf etwa die heutige arktische Position zurück, und das Meer stieg weiter und verschlang neues Land, so daß der Binnensee beim Hügel zu einem geschützten natürlichen Hafen wurde, denn das meiste Land zwischen dem Hügel und den alten Kreideklippen war weggeschwemmt worden. Auch die Temperatur war weiter gestiegen. Dadurch verschwand im nördlichen Teil der Insel die Tundra, und an ihre Stelle traten kühle Wälder. Rentier, Wisent und Elch starben dort allmählich aus.
Doch an der Stelle, wo die fünf Flüsse sich trafen, jagten die Menschen weiterhin ungestört. Dann und wann, wenn ein paar Abenteurern die Überquerung des Kanals bis zur Insel gelang, folgten auch sie den alten Jagdpfaden der Gegend während dieser langen Periode. Anderswo verlief die Geschichte ganz unterschiedlich, denn irgendwann vor dem Jahr 5000 v. Chr. vollzog sich die größte Revolution, die die westliche Welt je erlebt hat. Sie begann im Mittleren Osten und verbreitete sich von dort über fast ganz Europa. Diese Revolution war die Einführung
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