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Sarum

Sarum

Titel: Sarum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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arbeiteten und nur zum Frühstück und zum Essen eine Pause einlegten, dann noch einmal in der Abendstille für einen Trunk, wenn die erste Glocke die Priester zur Vesper lud.
    Er war auch manchmal in Avonsford, doch er lebte für seine Arbeit in der Kathedrale und hatte kaum Interesse an dem, was draußen in der Welt vorging.
    Im September seines vierten Lehrjahres kam ein Meister mit einer überraschenden Neuigkeit zu Osmund. »Wir werden eine Ausnahme machen und dich gegen Ende des Jahres in unsere Zunft aufnehmen.« Das war eine große Ehre, von der Osmund sich nie hätte träumen lassen. Es dauerte immerhin noch drei weitere Jahre, bis die vorgeschriebenen sieben Lehrjahre vorüber waren. Selbst Bartholomew wurde erst im folgenden Jahr aufgenommen.
    »Zuerst aber mußt du ein Stück anfertigen, das du der Zunft vorzeigst zum Beweis, daß du würdig bist.« Osmund wußte sofort, was er wählen würde.
    Es gab viele Arten von Schmuckwerk in der großen Kathedrale, das er bewunderte, doch die herrlichsten, aufwendigsten Stücke waren jene Blattknäufe, deren Entwurf auf pflanzliche Formen zurückging. Die langen Blätter, Stiele und Blüten waren miteinander verwoben, überlappten sich in großartig verschwenderischer Zurschaustellung der geschickten Hand des Bildhauers. Um ein solches Stück zu schaffen, mußte der Steinmetz nicht nur die zarten Blätter mit dem Meißel formen, er mußte darunter das Maßwerk Lage für Lage aus dem Stein herausschälen, bis es schließlich aussah wie ein großer lockerer Knäuel. »Ich mache einen Blattknauf«, beschloß er voller Vertrauen in sein Können.
    Seine Vorzeichnung war wundervoll. Die Mitte bildete eine gefüllte Rose ähnlich denen, die er neben der Tür von Godefrois Herrenhaus gesehen hatte. Der Außenrand bestand aus einem Kranz von Buchenblättern. Um die Mittelblüte rankte sich eine Orgie aus vegetabilen Elementen: Eichenblätter, Eicheln, Binsen, Efeu, eine wirre Fülle, genaues Abbild des reichen Blattwerks im blühenden Avon-Tal, das er so gut kannte. Der Blattknauf hatte einen Durchmesser von knapp dreißig Zentimetern, doch er enthielt alles, was nur möglich war. Jeden Tag, in der Morgendämmerung und abends bei Kerzenschein, arbeitete Osmund daran. Als die Zeit nahte, wo er die Arbeit vorzeigen sollte, war er sich ganz sicher, daß er mit diesem seinem ersten Versuch bereits ein Meisterstück der Steinmetzkunst vollbracht hatte.
    Kurz vor Weihnachten sollte Osmund vor den versammelten Zunftmitgliedern sich mit seiner Arbeit vorstellen. Zwei Tage zuvor war sie nahezu vollendet, und er legte sie in eine Kiste unter sein Bett in der Unterkunft, wo er sein Werkzeug aufbewahrte.
    Als er am nächsten Tag nach der Arbeit sein Werkzeug aufräumen wollte, war der Blattknauf verschwunden.
    Da beging Osmund, der Steinhauer, seine dritte Hauptsünde: Der Zorn, der ihn jetzt überkam, war eine ihm bis dahin unbekannte Gefühlsregung. Sein kleiner Körper begann zu zittern. Einen Augenblick lang sah er nichts als einen roten Nebel, und seine Hände krampften sich derart um Schlegel und Meißel, daß die Knöchel weiß wurden. »Das muß Bartholomew gewesen sein«, murmelte er. Was sollte er jetzt bloß machen? In sechsunddreißig Stunden sollte er seine Arbeit bei der Zunft vorzeigen. Und nun hatte er nichts! In diesem Punkt konnten die Zunftregeln nicht durchbrochen werden – entweder wies er seine Arbeit vor, oder seine Aufnahme würde auf das folgende Jahr verschoben werden.
    Gegen Abend erschien Bartholomew und setzte sich auf sein Bett, als ob nichts geschehen wäre. Osmund sagte kein Wort. Ihn zur Rede zu stellen hatte keinen Sinn, denn er würde alles leugnen. Und Beweise hatte Osmund nicht.
    Die ganze Nacht tat er kein Auge zu. Er mußte wegen der Zusammenkunft am übernächsten Tag etwas unternehmen, aber er konnte nur an Bartholomew denken. Sein Zorn war groß und unnachsichtig. Kurz vor Morgengrauen beschloß er, Bartholomew zu töten. Da hatte er plötzlich eine Idee. Es war ein letzter Ausweg, aber die Zeit konnte ausreichen. Er ließ Bartholomew unbehelligt, stand beim ersten Tagesschimmer auf und schlich aus der Hütte. Die kalte klare Luft tat ihm wohl; die Kathedrale lag still da. Er nahm ein kleines Stück Stein aus Chilmark, verließ das Baugelände und ging nach Avonsford. Er hatte das Gefühl, daß der Zorn ihm eine Eingebung beschert hatte. Am nächsten Abend betrachtete im oberen Raum des Gasthofes der Meistersteinmetz Osmund gedankenvoll.
    Der

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