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Sarum

Sarum

Titel: Sarum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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Junge sah blaß aus. Kein Wunder, denn er hatte zwei Nächte nicht geschlafen. Der Meistersteinmetz hatte festgestellt, daß Osmund tags zuvor nicht zur Arbeit gekommen war, und Bartholomew hatte durchsickern lassen, daß er wahrscheinlich nicht vor der Zunft erscheinen wollte. Aber nun war er da, und man hatte ihm die versprochene Aufmerksamkeit als Anwärter auf den Titel eines Steinmetzen zu zollen. Die übrigen Steinmetzen an den langen Tischen an drei Wänden des Raumes blickten Osmund erwartungsvoll an.
    »Du willst uns deine Arbeit zeigen?« fragte der Meistersteinmetz. Osmund nickte. Er hatte sie in einem kleinen Sack mitgebracht. »Ein schöner Blattknauf, nehme ich an?«
    »Nein, Herr.«
    Der Meistersteinmetz runzelte die Stirn. »Den hast du uns versprochen.«
    »Er ist verschwunden, Herr. Aber ich habe etwas anderes.« Das ließ nichts Gutes erwarten. Vielleicht hatten sie den jungen Mann doch zu wohlwollend beurteilt.
    Osmund zog einen Gegenstand aus dem Säckchen, eine etwa dreißig Zentimeter hohe Figur wie jene, die einem aus den Kapitellen der Kathedrale entgegenstarrten. Er stellte sie auf den Tisch und trat wortlos zurück.
    Als der Meistersteinmetz die Statue genau betrachtete, wurden seine Augen groß vor Verwunderung.
    Es war ein Abbild Bartholomews, wie er leibte und lebte, angefangen bei dem bösen, dümmlichen Ausdruck seines langen Gesichts bis hin zu der ständig nässenden Wunde am Hals. Es sah aus, als würde er vor etwas fliehen, doch sein Kopf streckte sich triumphierend nach vorn, als würde er eben einen Wettlauf gewinnen. Seine Lippen öffneten sich zu einem maliziösen Grinsen. In den ausgestreckten Händen hielt er einen Blattknauf mit einer kleinen Rose in der Mitte.
    In aller Stille machte die Skulptur die Runde von Tisch zu Tisch. Niemand verlor ein Wort über das Vorbild des Werkes, doch der Hinweis war eindeutig.
    »Wie lange hast du für diese Arbeit gebraucht?« fragte der Meistersteinmetz.
    »Einen Tag, Herr. Und eine Nacht«, fügte er wahrheitsgemäß hinzu. Der Meister blickte alle der Reihe nach an. Einige Zunftmitglieder grinsten breit. Da nickte er zustimmend.
    »Willkommen in unserer Gemeinschaft, Steinmetz Osmund«, sagte der Vorsitzende langsam und deutlich.
    Bei diesen Worten fühlte Osmund sich ebenso rasch von der Sünde des Zorns befreit, wie sie ihn heimgesucht hatte. Nie wieder sollte sie in einem solchen Maße über ihn kommen. In jener Nacht blickte er zu der unvollendeten Kathedrale empor und murmelte: »Ich glaube, ich werde mein Leben lang in dieser Kirche arbeiten.«
    1264
Wenn jemand Peter Shockley gesagt hätte, daß in diesem Jahr die parlamentarische Demokratie aus der Taufe gehoben würde, hätte er nicht einmal gewußt, was diese Begriffe bedeuten; und hätte man sie ihm erklärt, hätte er lauthals gelacht. Das war eine absolut irrsinnige Vorstellung.
    Wenige Männer in Sarum wurden wegen ihres gesunden Urteils mehr geachtet als Peter. Die von ihm und seinem Vater gegründete Mühle war ein sehr erfolgreiches Unternehmen geworden und hatte ihnen beträchtlichen Wohlstand gebracht. Es war nicht die einzige Mühle dieser Art in der Gegend. Es gab noch eine in der geschäftigen Stadt Marlborough, fünfundzwanzig Meilen nördlich, eine weitere in Downton, sechs Meilen südlich. Doch in Sarum selbst waren zu der Zeit nur die Mühle des Bischofs außerhalb der Stadt und die neue Shockley-Mühle in Betrieb, und das Geschäft ging glänzend.
    Peter war Mitglied der Kaufmannszunft. Er genoß Ansehen in der Stadt, und seine Leibesfülle nahm zu. Seinen blauen Augen entging nichts von dem, was sich in der Mühle oder in der Weberei abspielte, und ganz offensichtlich lag das Vermögen der Familie in guten Händen. Es gab nur ein Problem: Er hatte nicht geheiratet.
    »Es ist ja nicht so, daß er Frauen nicht mag«, erklärte der alte Edward betrübt. Mehr als einmal mußte er heimlich die Väter von Mädchen friedlich stimmen, mit denen sein Sohn Beziehungen hatte. Einmal mußte er sogar eine beträchtliche Zahlung an einen tief gekränkten Ehemann leisten. Jedesmal aber, wenn er die Frage bei seinem Sohn anschnitt, lachte dieser nur und sagte: »Ich heirate, wenn es soweit ist, Vater. So alt bin ich nun auch wieder nicht.«
    Es sah wirklich danach aus, als würde Peter sein Junggesellenleben in der blühenden neuen Stadt endlos fortführen. Doch im Jahr 1264 änderte sich alles.
    Der Boden für die außergewöhnlichen Ereignisse jenes Jahres wurde schon eine

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