Sarum
endlich fertiggestellt. Es war ohne Zweifel eines der vollkommensten Beispiele frühgotischer Architektur in Europa. Aber immer noch war jahrelange Arbeit für die Innenausstattung nötig. Jetzt aber waren Bauplastik und Malerei fertiggestellt, die hohen, bleigefaßten Fenster eingesetzt, und es fehlte nichts mehr an dem vornehmen Raumeindruck.
Am Spätnachmittag wurde ein feierliches Hochamt gehalten, an dem alle Steinmetzen mit ihren Familien und die halbe Stadt teilnahmen. Danach sollte ein großes Fest auf dem Marktplatz stattfinden. Die Sonne sank schon hinter dem Fluß, als Osmund seine Familie auf ihren Platz im vollbesetzten Kirchenschiff führte. Sein Sohn neben ihm machte große Augen, denn er hatte nie vorher eine solche Menschenansammlung gesehen.
Kurz vor Beginn der Messe fiel die Menge in Schweigen. Langsam wurde es dunkel. Im Halbschatten ragten die hohen Arkaden aus grauem Stein über den Menschen auf.
Die Hilfsgeistlichen raschelten umher, zündeten mit langen, dünnen Wachsstäben die Kerzen an. Lange Reihen von Kerzen standen an den Pfeilern, in den Querschiffen, den Arkaden und im Obergaden, an der Chorschranke und im Chor. Das dauerte zehn Minuten, und währenddessen verwandelte sich die große Kathedrale. Tausende von Kerzen glommen zuerst, dann leuchteten sie und füllten den ganzen Raum mit ihrem Licht. Als Osmund hochsah und die Wirkung der Steinmetzarbeit beobachtete, brach sein Gesicht in ein Lächeln auf.
Nun wurden die Westtüren geöffnet, eine lange Prozession zog in die Kathedrale ein und langsam durch das Mittelschiff nach vorn. Sie wurde angeführt von singenden Chorknaben, die lange Kerzen trugen. Dahinter folgten einige Dutzend Priester, deren lange weiße Gewänder über den polierten Steinboden schleiften; mit tiefer Stimme intonierten sie die einfachen majestätischen Harmonien des Gregorianischen Gesangs. Domherren und Diakone rauschten vorüber, und zuletzt, begleitet von zwei Knaben, die die Schleppe trugen, und von den Priestern mit den Sakramenten, erschien die große, stattliche Gestalt des Bischofs. Er wandte sein feines asketisches Gesicht nicht links und nicht rechts, und er wirkte noch größer durch die hohe Mitra mit dem Silberkreuz. In der Hand trug er den langen Bischofsstab, dessen Ende sich elegant wie ein Schwanenhals bog.
Die Menschen knieten nieder, als er vorüberschritt. Schließlich betrat er durch die Chorschranke das innere Heiligtum.
In ebendiesem Augenblick, als die Stimmen des Chors von dem fernen Altar zurückschallten, sah Osmund Cristina etwas weiter vorn auf der anderen Seite des Kirchenschiffes neben ihrem Vater. Nun wurden die Westtüren geschlossen, und als sie sich umdrehte, um dabei zuzusehen, blieb ihr Blick an Osmund hängen. Wieder stieg die heiße Begierde in ihm hoch.
Die Messe nahm ihren Verlauf. Das beruhigende Gebetsgemurmel und der ferne Gesang breiteten ihren zeitlosen Trost über die Menschenmenge. Doch für Osmund war es eine Qual.
»Agnus Dei…« kam der Widerhall des Gesangs. Lamm Gottes, das du hinwegnimmst die Sünden der Welt. Er versuchte an das Lamm zu denken, das zur Schlachtbank geführt wird – das große Opfer des christlichen Rituals.
Bei dem abendlichen Fest auf dem Marktplatz, wo die Ochsen sich am Spieß drehten und die Menschen sich um die langen Tische gruppierten, saß der Steinmetz schweigend neben seiner Familie. Seine Kinder plauderten, selbst das Gesicht seiner Frau verzog sich hin und wieder zu einem zufriedenen Lächeln. Doch Osmund war in sich zusammengesunken und empfand nichts als seine schreckliche Begierde, die ihn so drängend überkam, daß er am liebsten laut aufgeschrien hätte. In einem Anfall von Verzweiflung und Wut betäubte er sich maßlos mit Essen und Trinken in der Hoffnung, daß eine andere Sünde, die Völlerei, den größeren Dämon vertreiben würde. Er machte so weiter, bis er aufgedunsen und betrunken von der Bank ins Vergessen glitt. Die Krise kam im Juni.
Seit Vollendung der Kathedrale hatte Osmund die Szenen von Lot, dessen Frau zu einer Salzsäule erstarrte, und Abrahams Opfer fertiggestellt. Er freute sich darüber, denn das Fließende der Linien und die natürliche Ausdruckskraft der Gestalten, die er angestrebt hatte, kamen endlich zum Vorschein.
Mit Optimismus nahm er nun die Geschichte von Isaak und Jakob in Angriff.
Der Frühling war dieses Jahr besonders schön und angenehm. An einem warmen Junimorgen ging Osmund durch das üppig blühende Tal; ein Kuckuck
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