Sarum
Mittag ganz Sarum davon wissen.
Als er zu der Stelle kam, wo er seine Kleider ausgezogen hatte, waren sie verschwunden.
Er war nackt; also mußte er in diesem Zustand zurück in den Ort gehen. Das war die schlimmste aller Kränkungen. Man hatte ihm seine Würde genommen. Er machte sich langsam auf den Heimweg. In den folgenden Tagen spielte sich alles genauso ab, wie er es vorausgesehen hatte. Aber es gab auch Überraschungen. Er hatte angenommen, daß seine beiden Töchter sich ärgerlich gegen ihn wenden würden; er hatte ihre verächtlichen Blicke und ihr böses Schweigen bei seiner Rückkehr geahnt, aber er hatte nicht mit dem entsetzten, ungläubigen Gesicht seines kleinen Sohnes gerechnet, der nur wußte, daß sein Vater ein furchtbares Verbrechen begangen hatte, das er nicht verstand.
Angestachelt durch seine Schwestern, starrte er den Vater mit schreckensweiten Augen an und weigerte sich, ihm nahe zu kommen. Wider Erwarten verhielt seine Frau sich liebevoller. Sie übersah den Zorn ihrer Töchter und das vielsagende Schweigen, das ihr im Ort entgegenschlug. Der kleine, nun all seiner schwer erkämpften Würde beraubte Steinmetz tat ihr leid. Sie wußte, daß ihre blasse schmale Gestalt ihm kaum noch Vergnügen bereitet hatte. Nach ihrer langen Ehe war auf beiden Seiten wenig Hoffnung auf Leidenschaft geblieben. Sie machte ihm keine Vorwürfe, aber als sie sich neben ihn setzte, um ihn zu trösten, merkte sie, daß sie nach den ruhigen, ungetrübten Jahren ihrer Gemeinsamkeit nicht mehr wußte, wie sie das anstellen sollte. So legte sie einfach ihre Hand auf seinen Arm und wußte, daß er es spürte; das war alles, was die beiden tun konnten. Als Osmund am nächsten Tag zur Arbeit ging, litt er noch mehr.
Auf dem Weg durch die Stadttore hörte er Gekicher. Auf dem Gelände der Kathedrale bemerkte er die verächtlichen Blicke der Geistlichen. In der Kathedrale selbst spürte er, auch wenn er nicht hinsah, wie die Steinmetzen feixten, und neben seiner Werkbank stand die große Gestalt Bartholomews mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Osmund tat, als bemerke er nichts.
Die Stunden vergingen, und zum Glück ließ man ihn in Frieden; aber obwohl er versuchte, sich zu konzentrieren, konnte er an nichts anderes als an sein Elend denken, und mittags war er zutiefst deprimiert. Wahrhaftig, dachte er, ich werde für meine Sünden bestraft. Nach vier Tagen stellte er bekümmert fest, daß er mit seiner Arbeit fast überhaupt nicht vorangekommen war.
Fünf Tage nach dem Zwischenfall sah Osmund das Mädchen zufällig wieder. Diesmal war die Begegnung nicht geplant; sie wußte nicht einmal, daß er sie sah.
Es geschah auf dem Heimweg an jenem Abend. Am alten Kastell entdeckte er sie plötzlich auf einer kleinen Straße ins Tal hinunter. Sie war nicht allein, sondern ging ordentlich Hand in Hand mit einem Jungen. Osmund kannte ihn – es war John, der Sohn des Kaufmanns William atte Brigge. Die beiden merkten nicht, daß sie beobachtet wurden. Auf halbem Weg hielten sie inne und küßten sich. Osmund war wie erstarrt, doch dann stellte er zu seiner Verwunderung fest, daß es ihm nichts ausmachte. Er fühlte weder Ärger noch Eifersucht, nicht einmal Begierde. Er zuckte nur die Achseln. Jetzt ist sie aus meinem Leben verschwunden, sagte er sich.
Nun, in dieser letzten Krise seiner Demütigung, wandten sich seine Augen wieder der unvollendeten Szene von der Erschaffung Adams und Evas zu. Ohne weiter nachzudenken, begann er betrübt an der kleinen Figur des Adam zu meißeln. Dabei wurde ihm allmählich bewußt, daß er ihm seine eigene untersetzte Gestalt mit dem großen Kopf und den kurzen Beinen gab. Nicht nur das: Das männliche Wesen, das er da schuf – halb feierlich, halb ungeduldig vor seinem Gott –, war eine nur zu genaue Verkörperung seines eigenen Charakters, so nackt und bloß, daß er einen Augenblick verwirrt innehielt. Doch da war, so stellte er fest, etwas sehr Rührendes in der nackten Anmaßung des kleinen Mannes, wie sein Blick sich an Gott vorbei aufmerksam dorthin richtete, wo die Zukunft der Menschheit in der Gestalt Evas sich vor ihm erhob. Während er den Meißel rascher und leichter führte, begann der Steinmetz zu lächeln, und eine halbe Stunde später wandte er sich, zufrieden mit den Konturen des ersten Menschen, Eva zu.
Nun endlich sah er, wie er vorgehen mußte. Flink, mit einer plötzlichen Erkenntnis, die er vorher nicht besessen hatte, skizzierte er die Umrisse von Evas Körper,
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