Sarum
es auch.
Als er zwei Tage danach in der Halle seine Mahlzeit einnahm, hatte er die Genugtuung, für das Herrenhaus und das Dorf alles in seiner Macht Stehende getan zu haben. Die wichtigste Entscheidung jedoch war noch nicht getroffen. Er wandte sich an seine Frau: »Was soll mit unserem Sohn geschehen?«
Sie sah ihren umsichtigen Gemahl liebevoll an. Obwohl Rose, die Tochter des Ritters Tancred de Whiteheath aus Winchester, von seinem Vater für Gilbert ausgewählt worden war und nur eine bescheidene Mitgift mitgebracht hatte, führten sie eine Ehe von ungetrübter Harmonie. Mit ihrem schmalen, blassen Gesicht und ihrer hohen, gertenschlanken Figur war sie in Sarum einfach als die Lady von Avonsford bekannt. Das Auffallendste an ihr war ihr Haar. Bei der Hochzeit war es dunkel gewesen, aber mit ihrem dreißigsten Jahr wurde es plötzlich schneeweiß, nicht grau, und machte sie seltsamerweise noch schöner: »Die Lady von Avonsford ist bezaubernd; sie ist weiß wie ein Schwan«, sagten die Dorfbewohner.
Der Ritter von Avonsford und seine Frau liebten sich seit zwanzig Jahren. Von ihren drei Kindern waren zwei früh gestorben; Rose wünschte, sie hätte ihrem Gemahl mehr Kinder schenken können. Ihr Sohn Thomas hatte überlebt, und er war ihre größte Freude. Genau da lag das Problem. Wie viele Engländer seines Standes hatte Godefroi seinen Sohn auf das Schloß eines anderen Herrn geschickt, damit er dort erzogen würde. Der Junge war jetzt ein Page von fünfzehn Jahren; zu gegebener Zeit würde er ein Knappe und dann vielleicht ein Ritter werden. Gilbert hatte seinen eigenen Schwager, Ranulf de Whiteheath, ausgewählt, der den Jungen im Ritterdienst und im Benehmen eines Gentleman unterweisen sollte – eine kluge Wahl, nicht nur, weil er der Onkel des Jungen war, sondern auch, weil die WhiteheathBesitztümer größer und prächtiger als Avonsford waren. Er hatte gehört, daß Ranulf sogar Silbergabeln benutzte – eine ganz unübliche Extravaganz zu einer Zeit, da die meisten Menschen seiner Klasse sich nur mit Messern begnügten. Angesichts der neuen Bedrohung durch die Pest war er im Zweifel, was er tun sollte.
Sollte er den Jungen nach Hause holen oder in Whiteheath lassen? Es war ihm fast unerträglich, Thomas in einer solchen Zeit nicht an seiner Seite zu haben. Aber welcher Ort war sicherer? Diese schwierige Frage besprachen er und Rose beim Mahl. Normalerweise spielte in Avonsford ein Musiker zum Essen des Herrn auf, dann las der Vikar etwas vor – er diente mangels eines anderen Pfarrers Godefroi auch als Privatkaplan. Heute hatte Godefroi den Musiker fortgeschickt.
Nach dem Mahl waren sie immer noch unschlüssig. Vielleicht würde diese Pest, von der der Händler sprach, gar nicht auftreten. Godefroi sah den Priester hereinkommen, und da er ihn nicht enttäuschen wollte, nickte er ihm kurz zu, damit er begänne. Vielleicht könnte ihm die Lesung bei seiner Entscheidung helfen. Der junge Mann in den Zwanzigern, mit Ansatz zur Glatze, auseinanderstehenden Zähnen und schriller Stimme, las klar und deutlich. Jetzt stand er ehrerbietig vor dem Tisch und kündigte an, während er das kleine Buch herauszog, das Godefroi ihm geliehen hatte: »Die Sage von Orpheus.«
Gilbert liebte kein Gedicht mehr als diese bekannte Ballade. In der neuen höfischen Fassung war der legendäre Orpheus ein Ritter Arthurs, die edle Eurydike seine Dame, und die Unterwelt, in die er hinabstieg, um sie zu finden, wurde zum Feenreich.
Gilbert schloß zufrieden lächelnd die Augen, als berichtet wurde, wie Orpheus auf der Suche nach seiner Gemahlin zum vagabundierenden Sänger und Bettler wurde. Trotz der umsichtigen Verwaltung seines eigenen Besitzes identifizierte Gilbert sich mit diesem Ritter auf der Pilgerschaft, der alles aufgab. Er lauschte aufmerksam. Gilbert nahm Roses Hand in die seine und flüsterte: »Ich wäre hundert Jahre gewandert, um dich zu finden.«
Seine Frau drückte seine Hand zur Antwort und sagte: »Ich möchte, daß wir alle zusammen sind. Schicke morgen nach Thomas.« Bevor der junge Vikar ging, fragte ihn Gilbert, ob er Neuigkeiten über die Pest gehört hätte – er verneinte. »Aber ich bete jede Stunde für meine kleine Gemeinde in Avonsford«, versicherte er, »und ich bin überzeugt, daß wir verschont werden.«
Gilbert war sich dessen nicht so sicher; am nächsten Morgen, nachdem er einen Diener zu Pferd nach Winchester gesandt hatte, um seinen Sohn zu holen, wollte er in die Stadt reiten, um
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