Sarum
infiziert gewesen war, als sie ihn das erstemal fortgeschickt hatte. Wenn er jetzt die Pest bekam, war es ihre Schuld. Tag für Tag betete sie um seine Rückkehr, und Johns trotziges Schweigen war schlimmer als hundert Vorwürfe.
Es gab noch ein anderes Problem. Sie hatte den Ort so gut ausgewählt, daß nie jemand vorbeikam. Als nun Wochen ohne Nachricht vergingen, wußten sie nicht, ob sie sich schon herauswagen konnten. Nach einem Monat wurden die Vorräte knapp; schlimmer noch – es regnete nicht, und der Wasserteich war fast ausgetrocknet. »Noch einen Tag, und wir müssen hier weg«, stellte John fest, und Agnes konnte ihm nicht widersprechen.
Aber in der Nacht regnete es, am nächsten Morgen gingen sie zum Wasserteich und fanden klares Wasser vor. Sie hielten noch zwei weitere Wochen durch und lebten von Getreide und Wasser. Eines Morgens Mitte September sagte Agnes endlich zu John: »Ich kann nicht mehr.«
Es war ihr erstes und einziges Zeichen von Schwäche. Sie wollte aufgeben und weinen, aber es gelang ihr nicht. Eine Stunde später zog die verwahrloste Familie mit einem fast leeren Leiterwagen durchs Tal. Als sie nach Avonsford kamen, entdeckten sie, daß die Welt sich während ihrer Abwesenheit verändert hatte.
1382
Rückblickend mußte Edward Wilson zugeben, daß der alte Walter das Schicksal der Familie in andere Bahnen gelenkt hatte. Wie das Rad der Fortuna sich gedreht hatte! Welch ein Triumph, welche Rache!
Aber Walter war derjenige, der den schicksalhaften Augenblick für die Familie erkannt hatte. Wie ein Seemann, der den Gezeitenwechsel spürt, hatte er genau gewußt, was wann und wie getan werden mußte. Er hatte die Gelegenheit ergriffen und seine Familie angetrieben. Die Wende für die Wilsons war mit dem Schwarzen Tod gekommen. Edward war zu Beginn der Seuche fünfzehn. Als der kleine Peter plötzlich erkrankte, wurden er und seine Geschwister fortgeschickt. Sie blieben im Wald von Grovely, schliefen draußen, kehrten aber in gewissen Abständen zum Cottage zurück und holten Lebensmittel. Dann rafften Beulen- und Lungenpest auf einmal seine Mutter und seine Geschwister dahin. Nur sein Vater und sein geistig etwas zurückgebliebener, doch bärenstarker Bruder Elias überlebten. Elias wohnte mit dem Vater im Cottage, Edward blieb im Wald. Schließlich wurde auch der Vater krank.
Als Edward bei einem Besuch die Schwellungen in seines Vaters Achselhöhlen bemerkte, floh er.
Er hielt sich drei Wochen im Wald von Grovely auf, was möglich war, weil die Waldgesetze vorläufig außer Kraft waren. In seinen Fallen fing er viele Kleintiere, er erlegte sogar ein junges Reh. Oft dachte er daran, zum Shockley-Hof zurückzukehren, aber die furchtbare Erinnerung an das Dahinsterben seiner Familie hielt ihn davon ab. Dann eines Tages, sah er seinen Vater. Es war früh am Morgen. Walter humpelte den Hügel von Shockley her herauf, einen Fuß schleppte er im frischgefallenen Laub nach, so daß ihn ein unheimliches raschelndes Geräusch begleitete. Sein Gesicht war schmerzverzerrt, und sogar aus der Entfernung entdeckte Edward die Beulen in seinem Nacken. Offensichtlich war er kurz vor dem Tod. Der Junge hatte keine Ahnung, warum Walter dazu in den Wald gekommen war. Er wollte es auch gar nicht wissen, sondern lief davon, während sein Vater hinter ihm her fluchte.
Edward trieb sich den ganzen Tag am Rand der Hochebene herum und suchte sich dann für die Nacht eine andere Stelle im Wald. Die Dunkelheit senkte sich herab, und er war kaum eingedöst, als sich eine lange, hagere Hand um seinen Hals schloß. Er versuchte zu schreien, aber der eiserne Griff machte es unmöglich. Er wußte, daß es sein Vater war.
»Idiot«, zischte Walter nahe an seinem Ohr. Der Atem seines Vaters roch aus irgendeinem Grund nach Fisch.
Edward entspannte sich. Vielleicht konnte er seinen Vater überlisten und dem Griff entschlüpfen. Aber die Eisenfaust schloß sich nur noch fester.
»Du willst wohl entkommen? Denkst du, ich stecke dich mit der Pest an? Hast du noch Angst vor mir?« Walter freute sich anscheinend darüber. Die ganze Familie hatte ihn gefürchtet. Da fühlte Edward, wie der Vater seine andere Hand packte und sie, obwohl er sich wild dagegen wehrte, langsam, doch unerbittlich zu seinem Kopf zog und sie an einen kleinen harten Höcker drückte. »Das ist mein Nacken«, zischte er. Edward stöhnte, während seine Hand jetzt unter die behaarte Achselhöhle gepreßt wurde, wo ein anderer harter Höcker saß.
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