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Sarum

Sarum

Titel: Sarum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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Sternen.
    Am nächsten Tag wollte er wieder einmal zum Schafstall. Um ganz sicher aus der Stadt zu gelangen, bevor die ansteckenden Leichen hinausgebracht wurden, stieg er vor Morgengrauen vom Turm herunter. Seine Familie wirkte ruhig. Er bot an, mehr Lebensmittel zu bringen, aber sie lehnten ab.
    »Wir haben genug Getreide«, sagte Agnes. »Getreide und Wasser ist alles, was wir brauchen.«
    Aber die Belastung ihrer strengen Abgeschiedenheit forderte offensichtlich ihren Preis: John sah mürrisch drein, obwohl er – nach Beschreibung der Zustände unten – keine Lust hatte, den Zufluchtsort zu verlassen. Die Kinder waren still und in sich gekehrt. Agnes sah müde aus. Nachdem Nicholas ihnen von außerhalb des Steinkreises Mut zugesprochen hatte, verließ er sie.
    Am frühen Abend hatte er sich wieder, mit einem neuen Vorrat an Nahrung, im Turm eingerichtet.
    Eine leichte Brise wehte weiße Wölkchen über den Abendhimmel. Während er sich zurücklehnte und sie über sich dahinziehen sah, war ihm plötzlich, als bewegte sich die Turmspitze. Es mußte wohl die Bewegung der Wolken gewesen sein. Nicholas wartete, bis der Himmel wieder klar war, und schaute noch einmal hinauf. Hoch über ihm bewegte sich das Kreuz. Er setzte sich auf. Dabei spürte er das Gebäude unter sich schwanken, so daß er gegen den Rand der Brüstung fiel. Dann war wieder alles ruhig. Ein Gefühl der Übelkeit und der Panik überkam ihn. War die Kathedrale in ihren Fundamenten in Bewegung geraten? Konnte es sein, daß die Stützpfeiler nun doch nachgaben und die ganze mächtige Struktur in sich zusammenstürzte? Mühsam richtete er sich auf. Jetzt wankte das ganze Bauwerk so stark, daß er aus dem Gleichgewicht kam. Schweißperlen standen ihm auf der heißen Stirn. Er sah mit Schrecken, daß der Turm wild hin und her wankte. Der Boden unter seinen Füßen neigte sich immer mehr, bis Nicholas mit dem Gesicht aufschlug.
    Ein paar Minuten später kam er wieder zu sich. Seltsamerweise war alles – Turm, Brüstung und Mauerwerk – an seinem Ort. Er legte die Hand auf die brennendheiße Stirn. Schwindel und Übelkeit überkamen ihn. Endlich begriff er: Die Kathedrale hatte sich nicht bewegt. In dieser Nacht hatte er Schüttelfrost. Die hellen Sterne verschwammen vor seinen Augen. Am Morgen spürte er die Beulen in den Achseln und betete: »Mutter Gottes, rette deinen Diener.«
    Sein ganzes Leben hatte er der Kathedrale gedient. Es hieß, daß man die Beulen überleben könnte. Sicherlich würde die Heilige Jungfrau ihn beschützen. Er versuchte gar nicht, sich zu bewegen; nie wäre er die steile Wendeltreppe hinuntergekommen. Er trank nur ganz wenig von dem Ale, weil er dachte, daß er mit der Flüssigkeit haushalten sollte. Nachmittags waren die quälenden Schmerzen bis in die Leistengegend vorgedrungen. Nicholas wollte weinen, aber diese Erleichterung war ihm nicht vergönnt. Er verbrachte eine weitere Nacht allein, während die Pest erbarmungslos in seinem Körper wütete. Am Morgen wußte er dann, daß er nicht überleben würde. Mühsam schleppte er sich an den Rand der Brüstung. Die Stadt unter ihm erwachte allmählich.
    Er sah hinaus über die gewellten Hügelkämme im Norden, und dabei bemerkte er zu seiner Rechten verschwommen ein winziges, steinernes Gesicht in einer Mauernische, das in dieselbe Richtung blickte. So blieb er eine Stunde. Manchmal schrie er vor Schmerz laut auf. Dann sah er Adam mit seinem breiten Gürtel fröhlich über den Hof, am Glockenturm vorbei und durch das Tor zur Stadt gehen. Als er ihn nicht mehr sehen konnte, zog er sich auf die Brüstung und warf sich mit größter Anstrengung so weit wie möglich in die Luft hinaus.
    Gilbert de Godefroi vergaß die Familie Mason und den Schafstall völlig. Die Hälfte der Bewohner von Avonsford war gestorben. Er selbst saß Tag für Tag in der Halle des alten Herrenhauses. Oft nahm er das Epos des Orpheus zur Hand, und er las es mit Tränen in den Augen, während er an seine eigene dahingegangene Frau dachte. Täglich wartete er auf Nachrichten von seinem Sohn. Zwei Wochen lang hörte er nichts. Agnes Mason blieb mit ihrer Familie sechs Wochen auf der Hochebene.
    Die Woche nach Nicholas’ letztem Besuch war für Agnes die schlimmste.
    Nachdem er zwei Tage nicht erschienen war, wußten sie, was das hieß. John sagte nichts, aber er hatte sicher den gleichen Gedanken wie Agnes. Jedesmal, wenn Nicholas gesund zu ihnen heraufgekommen war, wurde es klarer, daß er noch nicht

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