Sarum
»Ich hatte die Pest«, flüsterte Walter, »aber sie hat mich nicht getötet. Jetzt ist es vorbei; du wirst sie nicht bekommen.« Er ließ Edwards Hals los, hielt jedoch seinen Arm fest. »Du kommst jetzt mit«, murmelte er. »Es gibt Arbeit.«
In Gedanken an die darauffolgenden Tage lächelte Edward jetzt. Sie waren ganz außergewöhnlich.
Elias hatte sich nicht angesteckt. »Zu dumm, um irgend etwas aufzufangen«, war der bissige Kommentar des Vaters. Der Rest der Familie lag in einem kleinen Graben oberhalb des Cottage ordnungsgemäß begraben. »Halb Sarum ist tot«, sagte Walter am nächsten Morgen. »Geh zu deinen Vettern. Bring jeden noch Lebenden her. Heute abend bist du wieder hier.«
Was von Walters Geschwisterfamilien noch übriggeblieben war, war nicht beeindruckend: zwei Witwen, ein Junge und ein Mädchen unter zwölf, schmal und furchtsam, und der Ehemann einer Schwester, ebenfalls dünn und von kränklichem Aussehen. Ein anderer Bruder, dessen Familie der Pest entronnen war, weigerte sich zu kommen. Doch zu Edwards Erstaunen war Walter mit dieser kleinen Gesellschaft offensichtlich ganz zufrieden. »Führe sie ins Cottage«, ordnete er an und fügte, plötzlich grinsend, hinzu: »Und paß auf, daß sie drinbleiben.« Der nächste Morgen brachte weitere Überraschungen. »Shockley ist tot«, verkündete Walter, »und auch seine Familie. Gott sei’s gedankt. Bis auf einen Jungen – Stephen.« Er nickte Edward zu. »Du kommst mit, wir werden ihn besuchen.«
Als sie im Haus in der High Street eintrafen, fanden sie es in einem chaotischen Zustand vor. Edward hatte Mitleid mit dem Jungen, der etwa in seinem Alter war. Edward begriff, daß Stephen, der die ganze Zeit der Seuche im Haus in Salisbury verbracht und die Familie um sich herum hatte sterben sehen, Schlimmeres durchgemacht hatte als er selbst. Stephen Shockley war vollkommen am Ende und blickte sie nur stumpf an.
Walter kam sofort zur Sache. »Du hast das Anwesen von der Äbtissin zu Lehen. Was willst du damit anfangen?« Stephen sah verständnislos drein. Er hatte keine Ahnung. »Meine ganze Familie ist tot, außer dem da.« Walter deutete mit dem Daumen auf Edward. »Es ist niemand mehr da, das Land zu bebauen.« Stephen starrte ihn immer noch stumm und mit ausdruckslosem Blick an. »Wenn du das Land nicht bebaust, mußt du es aufgeben.«
Jetzt reagierte der Junge. »Der Hof hat uns schon immer gehört«, protestierte er.
Walter zuckte die Achseln. »Willst du ihn selbst bewirtschaften?« Stephen schwieg. Sie wußten alle, daß er das nicht konnte. Das Geschäft der Shockleys in der Stadt und die Walkmühle im Avon-Tal waren beide mehr wert als das Gut. Was immer Stephen an Kenntnissen und Kraft besaß, mußte zuerst diesen beiden zukommen. Aber wenn er das Gut nicht bewirtschaften und der Äbtissin die Abgaben nicht bezahlen konnte, würde es an sie zurückfallen. »Ich werde Arbeiter anstellen«, schlug er hoffnungsvoll vor. Walter schüttelte den Kopf. »Du wirst niemanden finden. Die meisten aus der Gegend sind tot.« Das stimmte, und auch Stephen wußte es. Nach einer Pause sagte Walter: »Um die Wahrheit zu sagen – ich habe andere Angebote.«
Edward fragte sich, ob sein Vater bluffte. Stephen Shockley merkte es jedenfalls nicht. Walters Gesicht war ausdruckslos. Der junge Kaufmann war in einer verzwickten Lage, aber nicht nur er. Sein Problem war das des ganzen Landes; denn der Schwarze Tod hatte etwa ein Drittel der englischen Bevölkerung hinweggerafft. Vielleicht sogar mehr. Nach Schätzungen starben zwischen 1347 und 1350 über fünfundzwanzig Millionen Menschen in ganz Europa. Während seines Streifzuges durch die Gegend von Sarum war Edward allerlei zu Ohren gekommen. Eines aber war sicher: Viele Felder würden dieses Jahr ungepflügt bleiben, und jeder Gutsbesitzer in der Gegend war auf der Suche nach Landarbeitern. Schon eine Woche nach der Ausbreitung der Pest boten die Gutsbesitzer jedem Arbeitswilligen Spitzenlöhne.
Der junge Kaufmann sah Walter nachdenklich an. Er war kein Dummkopf und war sich wohl bewußt, daß in dem allgemeinen Durcheinander Leibeigene ihre eigenen Cottages verließen, ihre Lehnspflicht verletzten, um sich für hohe Löhne zu verdingen. Theoretisch brachen sie das Gesetz, aber da die Hälfte der Gutsbesitzer dies stillschweigend duldete, war es praktisch sinnlos, dagegen zu protestieren. Wenn Walter ihn sitzenließ, stünde das Gut leer, und er würde es wahrscheinlich verlieren. Der Leibeigene
Weitere Kostenlose Bücher